Pester Lloyd-Kalender 1859 (Pest)
Pester Lloyd-Kalender für das Jahr 1859 - Geschichte des Jahres
Geschichte bei Jahres. 137 aus. Statt dessen schweben die alten Gerüchte von einem baldigen Besuche, den Alexander II. dem Kaiser der Franzosen abzustatten gedenke, in der Luft. Die Kriegsfanfare ertönt in den Pariser Zeitungen 1 — nur daß der Lärm sich diesmal nicht gegen England richtet, sondern Italien aufzuwühlen droht, wo Piemont mit vollen Backen in das Charivari einfällt, das an der Seine angestimmt ward. Endlich muß der „Moniteur" einen seiner stereotypen Beruhigungsartikel vom Stapel laufen lassen, der keinen Menschen beruhigt. Jedermann weiß, daß Napoleon HI. einen Krieg, der sofort ein europäischer, ein Weltkrieg werden müßte, weder wagen wird, noch wagen kann, so lange ihn nicht seine Stellung daheim zwingt, Alles auf Eine Karte zu setzen und vabanque zu spielen. Das und das allein ist die Frage, auf deren Beantwortung es ankommt: und für diese sind die officiellen kalmirenden Phrasen gerade eben so gleichgiltig, wie die officiösen Rodo- mo-ntaden. Und bis sie beantwortet werden kann, tröstet Europa sich einstweilen damit, daß in dem ab- gelausenen Jahre in der Lage mehrerer europäischer Staaten ein Umschwung stattgefunden hat, der gegen die französischenUsurpationscapricenganz entscheidend in die Wagschale fallen muß. Da hat zuerst Rußland Gortschakoff's Wort: „wir schmollen nicht, wir sammeln uns" glänzend bewährt. Das Reich Katharina v der Großen hat begriffen, daß seine nächste Aufgabe d i e ist, Eroberungen im Innern zu machen. Es arbeitet an der Emancipation seiner Leibeigenen, an der Herstellung von Dampfer- und Eisenbahnlinien, kurz an der Belebung todt- und brachliegender geistiger und materieller Schätze mit Hilfe abendländischer Kultur. Die Folge davon ist, daß es leider wenig Luft zeigt, sich an der Hand und als Schützling des Napoleoniden in das europäische Concert wieder einführen zu lassen. Da hat ferner in Belgien ein liberales Ministerium festen Fuß gefaßt; auch in Spanien scheint O'Donnell sich zu halten — und mag er zehn Mal ursprünglich ein Klient des Tuilerienhofes gewesen sein: seine Position ist heute eine wesentlich andere, als während seines ephemeren Ministeriums von 1856; er ist gezwungen, sich zu Hause auf die gemäßigten Progreffisten zu lehnen und *ann schon deshalb auf die Dauer kein gefügiges Werkzeug des Grafen Walewski abgeben. Die Schweiz hat den brüsken Uebergriffen, die Frankreich lsich aus Anlaß des Attentates gegensie erlaubt hat und ldie ihre Schuld aus der Neuenburger Frage an Napoleon überreichlich getilgt haben, mannhaften, wenngleich theilweise vergeblichen Widerstand entgegen* Sefttzt.Sie sucht heute indem Anlehnen anOesterreich, das ihr freundlich entgegenkommt, Schutz gegen Frankreichs Prätensionen auf das militärisch so wichtige Dappenthal. Der Widerwille, den in ganz Deutsch- lland die Gaukelei mit der Heldenamedaille wachrief, muß Napoleon III. gezeigt haben, wie wenig er aus dem rechten Ufer des Rheines auf eine Wiederkehr der unpatriotischen Sympathien zu rechnen hat, die seinem großen Oheim vor einem halben Jahrhunderte die Sprengung des heiligen römischen Reiches ermöglichten. Um so weniger, als zugleich — die letzte, aber nicht die mindest bedeutende der erwähnten Umgestaltungen — in Preußen ein nationaler Unrund Aufschwung eingetreten ist, der, abgesehen von allen anderen Consequenzen, auch die beiden deutschen Großmächte einander wieder näher gebracht hat, so daß vor ihrer vereinten Pression jedes etwa austauchende Rheinbundsgelüste sich scheu verkriechen müßte. Diese veränderte Constellation, und nicht die Beru- higungsartikel des „Moniteur" sind es, welche dem Unbefangenen die Bravaden der Pariser Organe des Imperialismus — mögen sie nun England, oder den Rhein, oder Italien bedrohen — als hohle Prahlereien erscheinen lassen. Auf dem Höhepunkte ihres Einflusses tm Oriente stand die napokeonische Politik im Spätsommer 1857. Die vorwiegende Frage war damals bekanntlich die Reorganisationde rDonaufür st enth ríme r, wobei die Durchsetzung oder Verhinderung der, von Rußland und Frankreich befürworteten, von Oesterreich und der Pforte nach Kräften bekämpften Union den Angelpunkt aller Bestrebungen bildete. Die Berathungen der Divans ad hoc, deren Zusammentritt in Jassy und Bukurest vor der Thüre stand, mußten hiebei eine entscheidende Wirkung auf das Gutachten der an Ort und Stelle tagenden europäischen Commission, so wie auf die späteren Beschlüsse der Pariser Conferenz ausüben. Der Ausfall der Wahlen in der Moldau und Walachei ward daher von allen Seiten mit großem Eifer und gespannter Aufmerksamkeit überwacht. Die Türkei hatte den einfachen Weg eingeschlagen, den Gang der Dinge in der Walachei sich selber zu überlassen: demgemäß waren die Stimmen der Bevölkerung dort fast durchweg unioniftischen Deputirten zu Theil geworden. In der Moldau dagegen — wo, als in der kleineren Provinz, ohnehin gar viele Antipathien gegen die „Absorption" durch die Walachei sich regten — hatte der Kaimakam Vogorides im Einverständnisse mit der suzeränen Macht Alles aufgeboten, um die Namen entschiedener Gegner der Union aus den Wahlurnen hervorgehen zu lassen. Das Manöver war vollständig gelungen: allein nunmehr verlangte Herr v. Thouvenel, der französische Gesandte in Conftantinopel, mit größter Bestimmtheit die Cas- sirung der moldauischen Wahlen. Sein barsches Auftreten bewirkte zuerst den Rücktritt Reschid Pascha's. Als jedoch auch dessen Nachfolger noch auf Ausflüchte sann, stellte der Botschafter Napoleon's kurzweg sein Ultimatum und zog, da demselben nicht sofort genügt ward, in den ersten Tagen des August seine Flagge ein — welchem Beispiele die Vertreter Rußland's, Prenßen's und Sardiniens sich alsbald anschlossen. j