Folia archeologica 31.
H. Kolba Judit: Vésett gótikus talpas keresztjeink
GOTISCHE STANDKREUZE MIT GRAVIERTER VERZIERUNG Das Ungarische Nationalmuseum erwarb 1976 durch Ankauf für seine Sammlung mittelalterlicher Gold- und Silberschmiedearbeiten ein prachtvolles graviertes Kruzifix, welches bis jetzt der Fachliteratur völlig unbekannt war und auch nie ausgestellt wurde (Abb. 1 — 5). Sein Wert wird dadurch nur erhöht, daß seine Provenienz bekannt ist. Der letzte Eigentümer und Verkäfer ist ein Mitglied der Familie Nyári und das Kreuz stammt aus einer Kapelle von einer ihrer Besitzungen in Oberungarn. Im Laufe der Inventarisierung ist eine Untersuchung ähnlicher Kruzifixe aktuell geworden. Ihre Namengebung war bisher nicht einheitlich, sie wurden als Reliquien- bzw. Standkreuze, oder auch Vortragskreuze beschrieben. Dies hing mit der im 15. Jh. veränderten Rolle der Kreuze zusammen. Zu dieser Zeit wurden reich gravierte Kreuze lediglich als Altarschmuck verwendet, bzw. solche wurden direkt zu diesem Zweck verfertigt. Bis zur Zeit der Gotik sind die liturgischen Gebräuche festgesetzt worden, dadurch wurde aber auch die Rolle der liturgischen Objekte einheitlich. Diese mit charakteristischen Ornamenten verzierte Gruppe der Standkreuze, wozu auch das jetzt erworbene Kreuz gehört, scheint um die Mitte des 15. Jahrhunderts ausgebildet worden sein. Das Kruzifix Nyári ist aus Silber mit schöner originaler Feuervergoldung. Seine gut proportionierte Arme enden in dreilappigen Platten. An der Vorderseite des Kreuzes sind von einem drahtartigen Rand umgeben und mit klaren, tiefen, gravierten Linien umzeichnet die Symbole der vier Evangelisten zu sehen. Oben ist der Adler mit ausgebreiteten Flügeln, unter seinem linken Fuß mit einem leeren Spruchband (Abb. 2). Am rechten Armende sind die kleeblattförmigen Flächen vom sitzenden Markuslöwen (Abb. 3), am linken vom liegenden Ochsen ausgefüllt (Abb. 4). Unten ist, mit einfachen Linien gezeichnet, der geflügelte Jüngling, in der Form eines Engels, einen Spruchband haltend. In der Mitte des Kruzifixes befindet sich über einem inneren, mit nachgeahmter Holzfaserung verzierten Kreuz ein schön gegossenes Korpus (Abb. 6), in einer typisch gotischen Haltung, mit dem Ausdruck des Leidens dargestellt. An der Rückseite des Kruzifixes ist die Oberfläche mit Pflanzenornamenten in sehr feiner Meißelfrühung ausgefüllt: verschlungene Ranken mit gravierten Blättern und an den Enden, in den Lappen, prachtvolle Nelken. Am unteren Arm ist über die ganze Länge die Figur Mariens graviert, mit gotischer Lilienkrone, in der zeitgenössischen Mode entsprechenden Kleidung mit einem weiten, am Hals gefalteten Mantel (Abb. 7—8). Im Inneren des Kruzifixes ist keine Spur eines Reliquiars zu finden, sodaß wir aufgrund der erhalten gebliebenen Analogien an der Stelle des