Felix Ermacora: Ergänzungsband 8. Quellen zum Österreichischen Verfassungsrecht (1920) (1967)
I. Einleitung
16 Einleitung der Erstellung der Verfassung zu verzögern. Kennzeichnend hiefür ist ein Leitartikel Seipels in der „Reichspost“, in dem unter dem Titel „Heraus mit der Verfassung“ an die Adresse des Staatskanzlers die Aufforderung gerichtet wird: „Nun hat der Staatskanzler das Wort. Ihm gilt vor allem der Ruf: Heraus mit der Verfassung!“ In der „Arbeiter-Zeitung“ findet sich die schlichte Mitteilung über „die Arbeiten an der Verfassung“ 23). Nach dem nunmehrigen Abschluß der Vorarbeiten wurde die Verfassungsarbeit im Schoße der Staatsregierung weitergeführt24). Hiezu wurde als wissenschaftlicher Mitarbeiter auch Kelsen zugezogen. Die sozialdemokratischen Parteigänger erklärten zur Forderung nach der Schaffung einer neuen Verfassung, „daß sie im Wesen nur eine Lebenslüge sei“25). Es hat den Anschein, als hätte Staatskanzler Renner sich in einer allgemein zugänglichen Volksversammlung in Linz am 16. Mai 1920 gegenüber den Vorwürfen Seipels gerechtfertigt26). Die „Arbeiter-Zeitung“ führte in einem Leitartikel aus: „Der Ton des Herrn Dr. Seipel wird immer herausfordernder; der gute Mann gebärdet sich nun geradezu, als wäre er der Herr über Österreich ... nicht nachgeben schreit er jetzt in Wiener Versammlungen, heraus mit der Verfassung ... Eine Verfassung . .., die Geist, Inhalt und Form von den Christlichsozialen empfängt“27). Diese Ereignisse spiegelten die Koalitionskrise wieder, die kurze Zeit später zum Ausbruch kam. Das von der Staatsregierung eingesetzte Komitee zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes, das sich aus dem Staatskanzler Renner, Vizekanzler Fink, Staatssekretär Mayr und Prof. Kelsen zusammensetzte, trat am 8. Juni 1920 zum letztenmal zusammen28 *), ohne daß es gelungen wäre, eine einheitliche Auffassung zu erzielen. Als am 10. Juni 1920 die Koalition zusammenbrach und die Regierungskrise damit eingetreten war, wurde mit Recht nach dem Stand der Verfassungsfrage gefragt20). Es wurde betont, daß nicht die Verfassungsfrage unmittelbarer Anlaß der Regierungskrise gewesen sei. Die wesentlichen Differenzen in der Verfassungsfrage bezogen sich auf die Stellung der Länder im Bunde, die Kompetenzen des Bundes in einzelnen Fragen der Gesetzgebung und Verwaltung, auf Probleme der Ländergrenzen, auf die 2S) Siehe: Reichspost v. 6. 5. (S e i p e 1, Heraus mit der Verfassung) und Arbeiter-Zeitung v. 1. 5. 24) Vgl. den Bericht des Verfassungsausschusses (991 d. B.) unten S. 547. 25) Vgl. Austerlitz, Die Lebenslüge der Verfassungsreform, in: Arbeiterzeitung v. 11. und 12. 5. 1920. 28) Vgl. Arbeiter-Zeitung v. 17. 5. 1920, S. 1. 27) Vgl. Arbeiter-Zeitung v. 22. 5. 1920 („Herr Dr. Seipel gebe acht!“). 28) Vgl. den Bericht des Verfassungsausschusses (991 d. B.) unten S. 547. Kelsen-Froehlich-Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, 1922, S. 60. 29) vgl. Reichspost v. 14. 6. 1920.