Felix Ermacora: Ergänzungsband 8. Quellen zum Österreichischen Verfassungsrecht (1920) (1967)

I. Einleitung

1. Im Oktober 1919 wurde die Ausarbeitung einer reuen Verfassung konkret in Angriff genommen. Zwar war die konstituierende National­versammlung bereits im Februar 1919 gewählt worden, die christlich­soziale Partei hatte auch schon einen Verfassungsentwurf vorgelegt *) und Prof. Kelsen hatte über Auftrag des Staatskanzlers Renner verschiedene Verfassungsentwürfe ausgearbeitet2), aber die Verhandlun­gen in St. Germain hatten die Verfassungsarbeit in den Hintergrund treten lassen. Erst nachdem Anfang Oktober 1919 der Staatsvertrag von St. Germain abgeschlossen war, trat die Verfassungsfrage in den Mittel­punkt des innenpolitischen Interesses. Nach der Genehmigung des Staatsvertrages von St. Germain durcl die konstituierende Nationalversammlung war die Regierung zurückge­treten. Im Zuge der Regierungsbildung wurden die grundsätzlichen Ver­fassungsfragen in dem Koalitionsabkommen zwischen den Christlich­sozialen und den Sozialdemokraten vom 17. Oktober 19193) geregelt. Gleichzeitig wurde der christlichsoziale Politiker Dr. Michael Mayr zum Staatssekretär für Verfassungs- und Verwaltungsreform bestellt, dessen Aufgabe die Erstellung einer Verfassung war. In dem Koalitons- abkommen wurde hinsichtlich der Verfassung das folgende Ergebnis der Verhandlungen niedergelegt: „Der Entwurf der neuen Verfassung ist möglichst schnell auszu­arbeiten. Vor seiner Vorlegung an die Nationalversammlung wird die Regierung zunächst mit den beiden Parteien, dann mit den Landesre­gierungen Fühlung nehmen. In der Nationalversammlung wird bei der Vorberatung des Entwurfes ein Subkomitee des Verfassungsausschusses Vertreter der Länder als Experten zuziehen. Die neue Verfassung wird Deutschösterreich als Bundesstaat konsti­tuieren. Deutsch-Westungarn wird als ein besonderes Land dem Bunde angehören. Die Kompetenzen des Bundes werden in der Verfassung taxativ aufgezählt werden. Ausschließlich dem Bunde werden die aus­wärtige Politik, die Justizgesetzgebung (Zivil- und Strafrecht) und das Heerwesen Vorbehalten, außerdem die wirtschaftliche Gesetzgebung und Verwaltung, soweit dies die Einheit des Wirtschaftsgebietes erfordert, die Arbeiterschutzgesetzgebung, die Arbeiterversicherung, das Hochschul­J) Sogenannter 1. Christlichsozialer Verfassungsentwurf vom 14. Mai 1919 (Antrag der Abg. Dr. Mayr und Genossen, 231 d. B. zu den Sten. Prot, der konst. NV.); siehe S. 29 ff. 2) Vgl. den Bericht des Verfassungsausschusses, 991 d. B. zu den Sten. Prot, der konst. NV.; unten S. 547. 3) Abgedruckt in der Arbeiter-Zeitung vom 18. Oktober 1919, S. 3 f.

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