Leo Santifaller: Ergänzungsband 2/2. Festschrift zur Feier des 200 jährigen Bestandes des HHStA 2 Bände (1951)
VI. Kirchengeschichte - 64. Friedrich Engel-Jánosi (Washington): Zwei Studien zur Geschichte des österreichischen Vetorechtes
286 Engel-Janosi, Es ist bekannt, daß der Tod an Gregor XVI. in den Morgenstunden des 1. Juni rascher herangetreten war, als man es an der Kurie angenommen hatte. Sein einsames, sein verlassenes Sterben ist ein besonders krasses, wenn auch keineswegs vereinzeltes Beispiel für den Gegensatz zu der Stellung, die er eingenommen hatte, solange er der mächtige Gebieter gewesen war. In der allgemeinen Verurteilung, der das „Regime“ sofort nach seinem Hinscheiden anheim fiel, schien es bald ausgeschlossen, daß ein Kardinal, der unter dem Verstorbenen eine Rolle gespielt hatte, als Kandidat für die Tiara in Betracht kommen könne. In die überall laut werdenden Klagen über die Unfähigkeit der Männer, die zu Gregors Zeiten leitende Stellungen innegehabt hatten, stimmte auch der österreichische Botschafter ein. Es war und blieb eine wichtige Aufgabe der beim Heiligen Stuhl akkreditierten Vertreter der Mächte, von Zeit zu Zeit sogenannte „Tableaux des Cardinaux“ zu entwerfen, jene Männer zu porträtieren, aus deren Mitte das künftige Oberhaupt der Kirche zu wählen war und es ist ungemein reizvoll, die Charakteristiken der Mitglieder des Heiligen Kollegs zu lesen oder zumindest derjenigen, denen man einige Aussicht gab, bei der nächsten Wahl eine größere Anzahl von Stimmen auf sich zu vereinigen, als „papeggianti“ aufzutreten. Hier war der Kunst der Diplomaten eine eben die Begabten unter ihnen fesselnde Aufgabe gestellt; denn zu keiner Zeit war das Kolleg arm an ausgeprägten Individualitäten. Es gewährt ein hohes Vergnügen, zu verfolgen, wie sich die mit einer solchen Aufgabe Betrauten immer wieder bemühten, die Gestalt etwa eines Antonelli oder Rampolla zu erfassen, während man auch sieht, wie sich, wie von selbst, das Charakterbild z. B. des Giuseppe Sarto, des späteren Pius X., auch dem sehr anders gearteten Geist des Beobachters einprägte. Da — wie bekannt — seit der Wahl Clemens VII., also seit mehr als dreihundert Jahren, nur Italiener auf den Stuhl Petri erhoben worden waren, beschränkten sich die Charakterisierungen meist auf die italienischen oder doch auf die ständig in Italien lebenden Mitglieder des Kardinalskollegs. Selbstverständlich schwankt der historische Wert dieser „Tableaux“ entsprechend den Fähigkeiten der berichtenden Diplomaten und man würde kaum erwarten, daß die des Grafen Lützow die Höhe- oder Lichtpunkte einer solchen Reihe darstellten. Immerhin, eingehende Berichte hatte er nach Wien zu schicken und vor dem Zusammentritt des Konklaves von 1846 hatte er es das letztemal im August 1842 getan; diese Berichte sind erhalten ebenso wie statistische Tabellen, die von verschiedenen Gesichtspunkten aus die Struktur des Kollegs in den letzten Regierungsjahren Gregors XVI. aufzuzeigen versuchen. An der Spitze des Heiligen Kollegs sieht Lützow noch immer Kardinal Pacca x), den mutigen Exilgenossen Pius VII., den konservativen Antagonisten Consalvis. Schon bei zwei Konklaven schien ihm die Tiara gesichert, doch senkte sie sich ihm im letzten Augenblick nicht aufs Haupt: nun scheint ihn, der der Kirche durch 60 Jahre gedient hat, sein hohes Alter von vorneherein auszuschließen. Als einen der geistreichsten und gelehrtesten unter den Kardinälen bezeichnet der Botschafter den Kapuziner Micara; aber dieser steht in offener Opposition nicht nur gegen den Papst und dessen Regierung, sondern auch gegen fast alle seine Mitbrüder im Kolleg und er, der seinen Orden unter Lebensgefahr reformiert hat, nachdem er öffentlich die in der Revolutionszeit erduldeten Leiden als durch die Sünden der Ordensmitglieder verdient erklärte 2), hat auch seiner Kritik an Papst und Kardinälen als apostolischer Prediger sehr beredten Ausdruck verliehen. Seine Opposition gegen Gregor ging so weit, daß er vermied, dem Papst zu begegnen und da dieses gespannte Verhältnis bekannt ward, wurde Micara von der politischen Opposition, von den Männern der „Revolution“ auf den Schild erhoben; man kann sich darüber nicht wundern, schreibt Lützow, ist er doch nicht nur *) *) Bericht Rom, 23. August 1842, Nr. 36 A; vgl. Schmidlin, a. a. O., I, 95 ff., 117 ff. 2) Schmidlin, a. a. O., I, 361.