Leo Santifaller: Ergänzungsband 2/1. Festschrift zur Feier des 200 jährigen Bestandes des HHStA 2 Bände (1949)
IV. Quellen und Quellenkunde - 44. Oskar Regele (Wien): Die Geschichtsschreibung im Wiener Kriegsarchiv von Kaiser Joseph II. (1779) bis zum Ende des ersten Weltkrieges (1918)
Geschichtsschreibung im Wiener Kriegsarchiv (1779—1918). 741 durch staatliche Interessen, denen nebenbei bemerkt auch dadurch Rechnung getragen war, daß die Offiziere lediglich für ihren Monatsgehalt die Geschichtswerke schrieben. Das Kriegsarchiv war enge verbunden mit der „Österreichischen Militärischen Zeitschrift“, die durch ein halbes Jahrhundert einer der Hauptträger kriegsgeschichtlicher Tätigkeit war und die erst etwas in den Hintergrund trat, als amtliche Werke im Druck erschienen und 1867 die „Mitteilungen des k. u. k. Kriegsarchivs“ herausgegeben wurden. Diese Zeitschrift war zuerst ein vollamtliches Organ, dann jedoch nur ein halbamtliches und der Hofkriegsrat stimmte 1811 zu, „daß man sie ... keiner strengeren als der gewöhnlichen Zensur unterziehe und in Hinsicht von Meinungen und Ideen einen freien Spielraum lasse ...“1). Damit war wohlüberlegt ein Ventil geöffnet für freien wissenschaftlichen Meinungsaustausch, so oft ein solcher in den amtlichen Darstellungen aus staatlichem Interesse zu unterbleiben hatte. Die oberste Leitung der kriegsgeschichtlichen Arbeiten war — ausgenommen vorübergehende Unterbrechungen — immer dem Chef des Generalstabes anvertraut, der sowohl für die rasche wie auch zweckmäßige Verfassung der kriegsgeschichtlichen Werke verantwortlich war: FMLt. Johann Freiherr v. Prohaska von 1816 bis 1823, FMLt. Leonhard Graf Rothkirch und Panthen von 1831 bis 1840, FZM. Franz Freiherr v. John, von 1866 bis 1869 bzw. 1874 bis 1876, Generaloberst Friedrich Graf Beck-Rzikowski von 1881 bis 1901 und FM. Franz Graf Conrad v. Hötzendorf von 1906 bis 1911 bzw. 1912 bis 1917 sind seit Radetzky die um die österreichische Kriegsgeschichte meistverdienten General- stabsschefs. Aus dem bisher Dargelegten ergeben sich nun fast von selbst die Richtlinien, nach denen die österreichischen Kriegshistoriker zu arbeiten hatten. Rein inhaltlich gab es drei Stufen der Kriegsgeschichtsschreibung: von 1779 beginnend zuerst die ausschließlich referierende Geschichtsschreibung mit bloßer Verlaufsdarstellung und Datensammlung ohne jede Kritik; nach und nach übergehend in die betont pragmatische Darstellung, die sich vorzugsweise auf das Militärische erstreckte, vor allem lehrhafte Zwecke verfolgte und die Aufgabe hatte, das wichtigste Mittel der Staatspolitik, die Armee, in ihrer Fachbildung auf der Höhe zu halten; in den siebziger Jahren erfolgte sodann der Schritt von der Feldzugsdarstellung zur Darstellung des Krieges, zur Universalisierung der Kriegsgeschichtsschreibung verbunden mit der Anpassung der Methoden an jene der allgemeinen Geschichtsschreibung. Die „Organischen Bestimmungen für das Kriegsarchiv“ vom Jahre 1876 enthielten die Weisung: „Die Abteilung für Kriegsgeschichte hat die Kriegsereignisse sowohl der neuen Zeit als früherer Epochen in vollständiger Weise in ihrem Zusammenhänge mit der allgemeinen Weltgeschichte sowie mit besonderer Berücksichtigung und genauen Beleuchtung der Beschaffenheit der Kriegsmittel zu beschreiben und so auch die historische Entwicklung des ganzen Heerwesens darzustellen“. Nun war also ein Bogen von der allgemeinen Weltgeschichte bis zur Heeresgeschichte gespannt und die Verallgemeinerung der Quellenbenützung im Kriegsarchiv seit 1888 war eine Folge davon. Fassen wir nun die einzelnen Richtlinien zusammen, wie sie von der österreichischen amtlichen Kriegsgeschichtsschreibung für die Stoffgestaltung vorgezeichnet waren: rücksichtslose Wahrheit (Objektivität), lehrhafter Zweck mit einer diesem angepaßten Darstellungsart, frühe Geschichtsschreibung, Standpunktvertretung, Beachtung von Rücksichten, systematische und einheitliche Bearbeitung. Hinsichtlich des lehrhaften Zweckes wäre noch zu ergänzen, daß Kriegsgeschichte nicht nur in Form der Archivwerke ausschließlich als Selbstzweck verfaßt, sondern auch in Form von Lehrbüchern für niedere, mittlere und höhere Schulen und in Form allgemeinverständlicher (populärer) Darstellungen geschrieben wird. Ferner bleibt noch zu sagen, daß die systematische Bearbeitung darin besteht, daß alle Kriegsepochen gleichmäßig und lückenlos für die Zwecke der Armee x) Langer, S. 76.