Leo Santifaller: Ergänzungsband 2/1. Festschrift zur Feier des 200 jährigen Bestandes des HHStA 2 Bände (1949)

IV. Quellen und Quellenkunde - 44. Oskar Regele (Wien): Die Geschichtsschreibung im Wiener Kriegsarchiv von Kaiser Joseph II. (1779) bis zum Ende des ersten Weltkrieges (1918)

738 Regele, gebracht, durch welche die stets im Vordergründe gestandenen inneren und äußeren Friedens­bestrebungen nicht im Wege von Verstimmungen hätten gefährdet werden können. Eine weitere Rücksichtnahme bestand in der schon eingangs erwähnten notwendigen militärischen Geheimhaltung. Auch nach Ablauf eines Feldzuges bleiben viele Dinge der Geheimhaltung unterworfen, dürfen daher nicht ohne weiteres veröffentlicht werden, ganz gleich, ob es sich nun um Bewaffnung oder Ausrüstung, um Dienstvorschriften oder Mobilisierungsfragen handelt. In Österreich waren die Offiziere bis zum Jahre 1824, die „Österreichische Militärische Zeitschrift“ bis zum Jahre 1849 unter die allgemeine Zensur gestellt; die publizistische Tätigkeit der Offiziere war durch die Bestimmungen des „Dienst­reglements für das k. u. k. Heer“, I. Teil, Punkt 48, beschränkt und die im Kriegsarchiv wissenschaftlich arbeitenden Offiziere mußten zur Veröffentlichung nichtamtlicher Arbeiten die Genehmigung der Archivdirektion einholen. Die Rücksichtnahmen waren um so größer, je rascher die Kriegsgeschichtsschreibung nach Friedensschluß einsetzte. Das Gesetz, daß mit der Geschichtsschreibung tunlichst lange zuzuwarten sei, da erst die nötige zeitliche Distanz vollständige Bearbeitungen zulasse, kann für die militärische Kriegsgeschichtsschreibung nicht gelten, denn die Lehren des letzten Krieges müssen so rasch wie nur möglich ausgeschöpft und verwertet werden. Das Kriegsarchiv schrieb im Vorbericht zum 1. Heft der „Österreichischen Militärischen Zeitschrift“ (1808), jener Staat müsse Unrecht behalten, der seine Archive später öffne als die übrigen und trat mit diesen Worten für eine frühzeitige Geschichtsschreibung ein. Eine solche hat den Vorteil, daß noch Miterlebende die Ereignisse schildern können, daß Berichtigungen durch lebende Zeugen erfolgen können, daß noch die Eindrücke frisch und lebendig sind. Nachteilig sind das Fehlen besonders von gegnerischen Quellen wie des erschöpfenden Materials überhaupt und die gesteigerte Rücksichtnahme auf noch lebende Persönlichkeiten. Die späte Geschichtsschreibung kann sich auf breite Unterlagen stützen, die meisten Streit­fragen sind geklärt, die Rücksichtnahmen melden sich immer weniger zu Wort, dafür ist die miterlebende Generation verstummt. Rothkirch meinte 1), der Zeitgenosse könne bloß Chroniken und Material liefern, wirkliche Geschichte könne der Historiker erst nach 100 Jahren schreiben. Auch Conrad trat 1914 für das Zuwarten ein 2), es mangle an Quellen, der Krieg sei noch im Gange, alles schwanke noch in der Vorstellung der Menschen, die Geheimhaltung behindere die Darstellung, man könne nicht den Ereignissen vorgreifen .................Arz wies im Jahre 1917 3) auf die „hohe Bedeutung, welche der raschen Geschichts­schreibung nach Schluß des Krieges zukommt“ hin und begegnete sich hier mit Hoen, der erklärte 4), „daß die zuerst erscheinende Darstellung auf lange Zeit hinaus maßgebend bleibt.“ In der Kriegsgeschichtsschreibung spielt übrigens auch die öffentliche Meinung eine große Rolle, denn diese verlangt baldigste Aufhellung der Ereignisse, wie eine solche schon mit Rück­sicht auf die gebrachten Opfer ein „amtlicher Rechenschaftsbericht“ 5) geben muß. Man will begreiflicherweise wissen, was Wahrheit und was Legende ist, man will nicht vielleicht erst auf dem Umwege über das Ausland erfahren, wie es eigentlich war. Auf jeden Fall kann gesagt werden, daß jede andere Art der Geschichtsschreibung den Zeitpunkt ihrer Publikationen frei wählen kann, nur die militärische Geschichtsschreibung ist an ganz bestimmte Termine gebunden und muß sich daher mit einem erzwungenen Zeitpunkt abfinden. I m Mittelpunkte aller Betrachtungen über die Geschichtsschreibung steht die Frage der Objektivität und es gibt keine Geschichtsschreibung, die nicht entweder vom persön­lichen Standpunkte des Verfassers oder vom nationalen Gesamtstandpunkte aus dieselbe für sich in Anspruch nehmen würde, ist es doch auch menschlich nicht vorstellbar, daß ein x) „Wie soll man ...“ 2) Direktionsakten des KA. ZI. 725/2-1914. 3) K. u. k. Armeeoberkommando Op.-Nr. 47.599-1917. 4) Direktionsakten des KA. 10. Oktober 1917. 5) Generaloberst v. Arz, „Zur Frage der Geschichtsschreibung über den Weltkrieg“ vom 9.10.1917.

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