Leo Santifaller: Ergänzungsband 2/1. Festschrift zur Feier des 200 jährigen Bestandes des HHStA 2 Bände (1949)
I. Archiv-Wissenschaften - 1. Norbert Bischoff (Moskau): Einige Notizen über Geschichte und Organisation des Archivwesens der Sowjetunion
3 Einige Notizen über Geschichte und Organisation des Archivwesens in der Sowjetunion. Von Norbert Bischoff (Moskau). Moskau ist die Keimzelle des russischen Staates und damit des Archivs dieses Staates. In beharrlicher Arbeit „sammelten“ seine Fürsten, damals noch Vasallen des Khans der Goldenen Horde, im 14. und 15. Jahrhundert „die russische Erde“: Iwan Kalita, Iwan II., Dmitrij, der die erste bewaffnete Erhebung gegen die Mongolen zum Sieg bei Kulikowo, wenn auch noch nicht bis zur endgültigen Befreiung führte, die beiden ersten Wassilij und vor allem Iwan III., der Große. Und mit der „gesammelten Erde“, durch die sich das Land der Moskauer Fürsten zum Großfürstentum All-Rußland weitete, wuchsen der kleinen Urkundensammlung Moskaus die Bestände der übrigen, nun schrittweise vereinigten Herrschaften zu, die geistlichen und weltlichen Urkunden der Fürsten von Rjazan und Jaroslawl, von Tschernigow, Smolensk und Twer, und schließlich die schon beträchtliche Vertragssammlung der feudalen Handelsrepublik Nowgorod. All das kam nach dem nunmehr großfürstlichen Moskau und bildete bereits eine derartige Masse, daß schon unter Iwan III. die ersten Versuche einer Systematisierung unternommen werden mußten. Im 16. Jahrhundert entwickelt der nun vollsouveräne russische Staat rasch seine Beziehungen zu dem Westen. Sie finden ihren Niederschlag in den „Poßolskije Djela“, den diplomatischen Akten, die nun schon zu recht erheblichen Beständen anwachsen. So wird das Archiv der Moskauer Herrscher zum zentralen politischen Archiv Rußlands. Sein Werdegang in jenen frühen Zeiten entspricht somit weitgehend dem des „Tresor des Chartes“ in Frankreich. 1571 brennen die Krimtartaren Moskau nieder. Vierzig Jahre später ist es in der Hand der Polen. Nach ihrer Vertreibung, die die „Zeit der Wirren“ beendet, baut sich unter den ersten Romanows der russische Staat wieder auf, dem inzwischen dank der Kühnheit einer Handvoll Kosaken das riesige Sibirien zuwächst: 1632 stehen die ersten Russen an den Ufern des Stillen Ozeans. Reich sind im Archiv der Zaren die Zeugnisse jener pathetischen Entwicklungen. Die europäische Politik Peters des Großen und die durch ihn bewirkte Modernisierung der Verwaltung bringen dem Archiv nicht nur ganz gewaltige Zuwächse, sondern sie stützen sich auch schon in hohem Maße auf die vorhandenen Archivalien, die nun in ihrer politischen und administrativen Bedeutung voll erkannt werden. Eine grundlegende Neuerung und einen eigenartigen Systematisierungs- und Vereinheitlichungsversuch brachte der dem Archiv wesen gewidmete, ja es für Rußland recht eigentlich begründende Artikel 44 des „Generalreglaments“ Peters vom Jahre 1720. Jene grundlegende Neuerung bestand in der Verfügung, daß die abgeschlossenen Akten nach drei Jahren aus dem laufenden Geschäftsbetrieb auszuscheiden und in eigenen Archiven zu sammeln sind. Diese Akten sollen in zwei „Zentralarchiven“ zusammengefaßt werden. Eines derselben soll für die Ablage der „abgeschlossenen Vorgänge aller Kollegien, Kontore und Kanzleien dienen, die nicht Einnahmen und Ausgaben betreffen“. Dieses Zentralarchiv soll unter der Aufsicht des „Inostrannych-Djel-Kollegs“ stehen. Das andere, in dem sämtliche Akten über Kassengebarungen zu sammeln sind, soll dem „Revision-Kolleg“ unterstehen. Es ist nicht zu verwundern, daß diese Regelung nie durchgeführt werden konnte. Die Akten verblieben