Leo Santifaller: Ergänzungsband 2/1. Festschrift zur Feier des 200 jährigen Bestandes des HHStA 2 Bände (1949)

I. Archiv-Wissenschaften - 1. Norbert Bischoff (Moskau): Einige Notizen über Geschichte und Organisation des Archivwesens der Sowjetunion

4 Bischoff, vielmehr bei den Behörden, bei denen sie erwachsen waren, und bildeten dort im Laufe der Zeit eigene Archivkörper. Der für die Geschichtsforschung wichtigste unter diesen wurde das Moskauer Archiv des „Inostrannych-Djel-Kollegs“, des späteren Ministeriums des Äußeren. Auf Befehl Peters wurde im März 1720 ein eigener Aktuarius in der Person Alexej Potschainows bestellt, dem aufgetragen wurde, die Akten des alten „Poßolskij Prikaz“ und seiner Nachfolger, der „Poßolskaja Kantselarija“ und des „Inostrannych-Djel-Kollegs“ in Ordnung zu bringen und zu verzeichnen. Dies erwies sich als ein überaus mühevolle^ Unternehmen, denn die Akten befanden sich in chaotischer Unordnung, über zahlreiche Gebäude verstreut, in die sie wegen Baufälligkeit ihrer früheren Aufbewahrungsorte verbracht worden waren, „in Truhen und Kisten und Körben und Schachteln, mit alten Büchern, Mappen und Heften und alles ohne jede Ordnung“. Noch dreizehn Jahre später mußte der Assessor S. Iwanow, von dem der alten Vorakten bedürftigen „Inostrannych-Djel-Kolleg“ zu flotterer Förderung der Ordnungsarbeit angehalten, berichten, es sei „eine schwierige Sache“, den Auftrag des Kollegs „rasch“ durchzuführen, „denn die Moskauer Akten liegen nicht nach Ländern, sondern befinden sich zu Häuf in den Truhen und zuerst ist es nötig, sie nach Ländern, Jahren, Monaten und Tagesdaten zu ordnen“. Die Arbeit wurde schließlich bewältigt, neue Fonds wurden dem Archiv im Laufe des 18. Jahrhunderts einverleibt, aber von einer einheit­lichen Organisierung des gesamten staatlichen Archivmateriales war nicht mehr die Rede. Die Romantik, deren Beginn im Rußland Alexanders I. mit der durch Sperjanskij inspirierten Reformperiode zusammenfiel, weckte auch dort neues Interesse für die nationale Vergangenheit und damit für die in den Archiven verwahrten Zeugen derselben. Man träumte davon, „ganz Rußland in eine einzige Bibliothek zu verwandeln, die Verzeichnung aller historischer Dokumente durchzuführen, die vom Weißen Meer bis in die Steppen der Ukraina, von den Grenzen Litauens bis zu den Höhen des Urals verstreut sind“. Dieses grandiose Programm ist — bis zum Pamir und zum Stillen Ozean erweitert — hundert Jahre später Wirklichkeit geworden. Zur Zeit seiner Erstellung aber blieb es Utopie. Die Reformen der sechziger Jahre riefen den nach Ausmaß und Bedeutung größten Versuch einer Gesamtarchivreorganisierung im alten Rußland hervor. Auch dieser Versuch, der mit dem Namen N. W. Kalatschows verknüpft ist, führte nur zu Teilerfolgen. Sein wesent­lichstes Ergebnis war die Aufstellung des auch für die Archivalien zuständigen „Archäo­logischen Instituts“ und die Errichtung von „Gelehrten Archivkommissionen“ in den Gouvernements. Um die Jahrhundertwende beschäftigte sich angesichts der immer unhaltbarer werdenden Zustände auf archivalischem Gebiet die Moskauer Archäologische Gesellschaft sehr eingehend mit der Reform- und Vereinheitlichungsfrage. Das von ihr ausgearbeitete Programm sah die Gründung einer Archivhauptdirektion und eines einheitlichen Staats­archivs sowie die Schaffung von zwölf Kreisarchiven und in jeder Gouvernementshauptstadt eines Gouvernementsarchivs vor. Auch dieses Projekt wanderte zu den Akten. Im Jahre 1905 wurde eine aus den Vertretern der wichtigsten beteiligten Dienststellen gebildete Kommission zur Ausarbeitung von Maßnahmen zwecks Erhaltung der historischen Denkmäler, darunter auch der Archivalien, eingesetzt, die in siebenjähriger Arbeit den Text eines Gesetzentwurfes über die Schaffung eines Zentralkomitees zur Erhaltung der Altertümer fertigstellte. Damit endet die Geschichte der Versuche des kaiserlichen Rußland, zu einer einheitlichen Archivorganisation zu gelangen. Sie erweist, daß dieses Ziel bereits zu einem erstaunlich frühen Zeitpunkt*) in seiner ganzen idealen Vollständigkeit erkannt wurde, daß es beharrlich festgehalten wurde, daß es aber nicht erreicht werden konnte. Seine Verwirklichung blieb der Sowjetmacht Vorbehalten. Den ersten, grundlegenden Akt stellt das von Lenin gezeichnete Dekret des Rates der Volkskommissare der Russischen *) Zum Vergleich sei an folgende Daten erinnert: Frankreich, Archives Nationales — 7 Messidor II, Archives Départementales — ő Brumaire 1796; Brüssel — 1796; Preußen — 1810/21.

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