Evangelischen obergymnasiums, Bistritz, 1873
7 kabelnlernen. Fragen wir nach der Praxis der alten Gymnasien, welche in ihren Leistungen im Lateinischen in vieler Hinsicht Muster für uns zu sein verdienen, so hatte sich dieselbe für die zweite der eben bezeichneten Ansichten entschieden und hielt mit Strenge ans selbstständiges Vokabelleruen. Erst in der spätern Zeit ist in den meisten Gymnasien die andere Methode vorherrschend geworden, nach welcher die Erlernung der Vokabeln sich an die Lektüre anschließt und zwar aus doppeltem Grunde mit Recht. Einmal haben die einzelnen Wörter nicht an und für sich selbst und losgelöst vom Satz einen selbstständigen Werth, sondern erhalten ihre Bedeutung erst als Bestandtheile der organischen Gliederung des Satzes in ihrer wechselseitigen Beziehung aus einander. Daher ist es unstatthaft das einzelne Wort für sich herausgerissen aus dem lebendigen Organismus des Satzes dem Gedächtniße einzuprägen und unmöglich auf diesem Wege ein wahrhaftes sprachliches Verständniß zu erzielen. Am Satze und durch denselben muß dem Schüler das Verständniß auch für den Begriff des einzelnen Wortes eröffnet, ans diesem Wege derselbe in den Besitz der erforderlichen copia vo- cabulorum gesetzt werden. Der zweite Grund für das Vokabellernen int Anschluß an die Lektüre ist folgender:-Mit Recht dringt man allerwärtö auf möglichste Conzentration des Unterrichts. Aber ein selbstständiges, neben dem übrigen lateinischen Unterricht hergehendes Erlernen von Vokabeln heißt den andern Seiten dieses Unterrichts eine neue hinzufügen im geraden Gegensatz gegen die erstrebte Zusammenfaßung und Vereinfachung. Bei den alten Gymnasien, in denen von den Schülern wenig mehr als die Beschäftigung mit dem Lateinischen gefordert wurde, kam es auf strenge Conzentration des betreffenden Unterrichtes nicht so sehr an, als jetzt, nachdem der Kreis der Unterrichtsgegenstände ein so viel weiterer geworden ist. Gegenwärtig spricht auch schon die Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit der Schüler und die dem lateinischen Unterrichte zngewiesene Zeit wider eine Einrichtung, die dem Erlernen lateinischer Vokabeln eine selbstsän- dige Stellung zuweist. Aber um so nothwendiger ist es, dafür zu sorgen, daß nun auch wirklich im Anschluß an die Lektüre und durch dieselbe die nöthige copia vocabulorum erworben werde. Hierin hat wohl der Lehrer am strengsten vorzugehen und keinerlei Nachsicht zu üben. Ich habe gleich in den ersten Stunden des Schuljahres die Schüler darauf aufmerksam gemacht, daß auch nur ein bei der Lektüre nicht gewußtes Vokabulum die Note „nicht hinreichend" nach sich ziehe und habe das auch streng durchgeführt. Es genügt aber nicht, daß blos die an der betreffenden Stelle passende Bedeutung des Wortes gewußt werde, sondern es muß auch die Grundbedeutung, sowte oben schon erwähnt, im Hefte, und im Gedächtniß sein. Denn es kann oft dasselbe Wort in derselben Stunde in ganz verschiedener Bedeutung Vorkommen und da ist es dann Sache des Lehrers das Verständniß der scheinbar unverbunden auseinander liegenden Bedeutungen zu vermitteln, so daß der Schüler aus dieser Art sprachlichen Erwerbs einen Gewinn für seine Bestrebungen erwachsen sieht. Nach dieser häuslichen Vorbereitung wird nun in der Schule der Satz vom Schüler laut und deutlich gelesen mit genauer Berücksichtigung der Unter