Evangelischen obergymnasiums, Bistritz, 1873

Zu dieser Gymnastik eignet sich nicht vorzugsweise die Muttersprache. Eie hat das Kind lange, bevor es in den Kreis der Schule trat, unbewußt ge­lernt, ihrer bedient es sich, ohne sich des Wie und Warum bewußt zu sein. Auch andere lebende Sprachen erfüllen nicht durchaus den bezeichneten Zweck. Einmal ist es, eben weil sie noch Mittel des lebendigen Völkerverkehres sind, kaum anders möglich, als daß bei der Beschäftigung mit ihnen als Hauptzweck die Aneignung zum unmittelbaren Gebrauch des Lebens in den Vordergrund tritt, ein Ziel, zu welchem andere, nähere Wege führen. Da nn aber eignen sie sich auch noch aus einem andern Grunde zu diesem Zwecke weniger. Ihr inneres Wesen wie ihr äußerer Bau ist noch nicht abge- schloßen, ist noch im Werden und Bilden begriffen. Als Vorbild an und nach welchem man den eigenen Geist bilde und übe, eignet sich vielmehr ein fertiges, in allen seinen Theilen abgeschloßenes Werk, als ein noch im Stadium des Werdens begriffenes. Daher sind es vorzugsweise die alten Sprachen und unter diesen ins­besondere die beiden nach ihrem Bau und Wesen vollkommensten, die griechische und lateinische, in deren Studium das Gymnasium seine Schüler einführt. Aber die beiden elastischen 'Sprachen, obwol nahe miteinander verwandt, sich gegenseitig ergänzend, beide unentbehrlich, stehen dennoch nach ihrem Einfluß und ihrer Bedeutsamkeit für Iugeudbildnng nicht auf derselben Stufe. Mag die griechische Sprache — und wer wollte es ihr nicht gerne einräumen — in feinster Nuancirung des Gedankens, in freiester Beweglichkeit und musikali­schem Wohlklang die lateinische Sprache weit hinter sich lassen, dennoch gebührt schon als Zuchtmütel des jugendlichen Geistes der lateinischen Sprache weit­aus der Vorzug. Sie ist einfach, ernst, knapp, durch strenges Gesetz gebunden. Wie das römische Volk seine Bauten und namentlich seine Gesetze für die Ewigkeit geschaffen zu haben scheint, so hat es auch seiner Sprache den Stempel unwandelbarer Gesetzmäßigkeit ausgeprägt. Darum eignet sie sich mehr als jede andere zur Lehrerin der Jugend. Dies ihr Wesen schreibt zugleich mit unerbittlicher Strenge das Gesetz der Methode vor, nach welcher sie der Jugend mitzutheilen ist. Kein Lehrgegen- stand, mit Ausnahme der Mathematik, fordert gebieterischer ein ganzes, festes Wissen, eine durchsichtige Klarheit, eine Conzentrirung der vollen Geisteskraft und Geiftesspannung, als das Studium der lateinischen Sprache von den ersten Elementen an, und hier eben zu allermeist, bis zu ihrer feinem und tiefem Erfassung hinauf. Auf folgenden Blättern beabsichtige ich nun einen auf zwölfjähriger Er­fahrung beruhenden Beitrag zur Gjyrnnasialpädagogik zu geben. Natürlich nehme ich für meine Worte nur den Vorzug der langen Erfahrung, ja nicht den der Unfehlbarkeit in Anspruch. Eigenthümlicher Weise hatte ich während meiner bisherigen Thätigkeit als Lehrer neben meinen andern Unterrichtsstunden zehn

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