Evangelischen obergymnasiums, Bistritz, 1873

Zum lateinischen Unterricht in der Quarta. Die Aufgabe des Gymnasiums ist die freie Geistesbildung der ihm an­vertrauten Jugend, welche jeder späteren Berufs- und Standesbilduug zur Grundlage zu dieneu geeignet ist. Wenn der Gymnasial-Schüler die Schule verläßt, ist er nicht unmittelbar zum Eintritt in den Stand des Geistlichen oder Ricyters, des Lehrers oder Arztes, des Kaufmanns oder Fabrikanten, noch zu irgend einem andern speciellen Beruf vorbereitet, aber er soll diejenige all­gemeine Geistesbildung in das Leben mitbringen, wejche ihn befähige-, sich jedem Beruf, welchen Namen er auch haben möge, zu widmen mit der Aussicht, den Anforderungen desselben geistig zu genügen. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Weg, welcher zu einer allseiti- gen Entwickelung des Geistes, dem Ziel des Gymnasiums, führt, weiter und schwieriger ist, als derjenige der bloßen Vorbereitung zu einem bestimmten, einzelnen Berufe. Daher ist es erklärlich, daß Zeiten, in welchen der Sinn für ideale Ziele von dem Trachten nach materiellem Gewinn erstickt zu werden droht, in denen die Richtung aus uuniittelbaren, greifbaren Vortheil in schroffem Gegensatz steht gegen Ansichten und Einrichtungen, welche einer todten Sprache inmitten der vornehmsten Bildungsstätten der Jugend einen so hervorragenden Platz anweisen, der Gymnasialbildung abhold sind. Allerdings verheißt das Sprachenstudium keinen Gewinn, der mit der Elle gemessen oder mit dem Pfund gewogen werden könnte; allein naturgemäß muß das Gymnasium diejenigen Unterrichtsgegenstäude in seinen Kreis aufnehmen, die vermöge ihrer geistigen Bildungselemente geeignet sind, daß die Kräfte des Geistes an ihnen geübt, allseitig entwickelt und gestärkt werden. Nun aber ist es durch die Erfahrung bestättigt, daß nichts den jugendlichen Geist mehr nährt, kräftigt und nach allen Seiten hm bildet, als das Studium der Sprachen. Die Sprache ist an sich das vollendetste Meisterwerk des Menschengeistes so wie sie des Menschen edelstes Besitzthum ist. Das Sprachstudium setzt die gleichzeitige Thätigkeit sämmtlicher Geisteskräfte voraus, entwickelt, übt und stärkt sie alle gleichmäßig und zugleich und das ist es eben, was dasselbe mit Recht zum eigentlichen Kern der Gymnasien macht.

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