Evangelischen obergymnasiums, Bistritz, 1871
33 3. Erkenntniß des römischen Geistes durch die römische Litte r a t u r. Wegen ihrer reichhaltigern Litteratur wird sehr oft der griechischen Sprache der Vorrang vor der lateinischen überlassen. Was Geist, Schönheit und Originalität anbetrifft, verdient sie denselben auch unzweifelhaft. Aber wie steht es mit ihrer Bedeutung im Leben? Keine Wissenschaft außer Theologie (wegen des neuen Testaments) und der altklassischen Philologie erfordert ihre Kenntniß. Griechische Wörter brauchen wir zwar täglich und ebensoviel als lateinische. Aber um „Theater, Komödie, Barometer, Telegraf, Meter, Monarchie, Democrat" u. s. w. zu verstehen, ist doch nicht etwa Kenntniß der griechischen Sprache und Litteratur erforderlich. Wenn man die lebendige Anschauung der Dinge hat, ist der Name, seine Ableitung und ursprüngliche Bedeutung ziemlich gleichgültig. Das Griechische hat mithin, so schön es an sich ist, für unsere Bildung nur sehr beschränkten Werth und es steht der übergroße Zeitaufwand mit dem geringen Bildungsmomente in einem so ungünstigen Ve-rsiält nisse, daß wir es aus den allgemein verbindlichen Lehrstunden in den Privatunterricht verweisen. Homer und einige Stücke von Sophocles können den Schülern aus guten Uebersetzungen zur Kenntniß gebracht werden. 8. Psychologie und Logik können ohne Schaden für die Gesammtbildung ans dem Gymnasium entfernt werden, da das richtige Denken durch das Denken über das Denken nicht gefördert wird und wer nicht richtig denkt, durch die Logik es auch nicht lernt. Ebenso ist eine rege Seelenthätigkeit ungleich Mehr werth, als bewußtes Reflectiren über diese Thätigkeit. Beide Disciplinen überlassen auch die Gymnasien Deutschlands fast sämmt- lich' den Universitäten. Was wir wünschen und wollen von unfern Gymnasium ist also Bildung und nicht einseitige Gelehrsamkeit. Die Gelehrsamkeit auf dem Grunde allgemeiner Bildung gebe die Universität und die Fachschulen. Auch der Gelehrte soll ein Gebildeter sein, geneigt und befähigt an seines Volkes bürgerlichem, staatlichem und religiösem Leben Theil zu nehmen. Gebildete kann ein Volk nicht genug haben, der Gelehrten bedarf es ungleich weniger. Ohne Gelehrsamkeit ist Rom groß und blühend geworden; Gelehrte hat Nordamerika wenige aufzuweisen. Dagegen hat es Deutschland nie, auch in den Zeiten tiefster Erniedrigung nicht, an Gelehrsamkeit gefehlt; Athens Fall hielt die Gelehrsamkeit nicht auf. Damit soll keine Geringschätzung derselben ausgesprochen, nur der Ueberschätzung entgegengetreten werden. 3