Evangelischen obergymnasiums, Bistritz, 1871
30 Wie die Mathematik die Wissenschaft der Raum- und Zahlengrößen ist, so ist die Zeichenkunst die bildliche Darstellung des Räumlichen. Außer der Bildung des Auges (ästhetische Seite) und der Hand, die wahrlich nicht gering anzuschlagen ist, hat die Zeichenkunst einen außerordentlichen Werth durch die mannigfachste Anwendung im bürgerlichen Leben, der Kunst und Naturwissenschaft. Sollen Geographie und Naturwissenschaft ihre Anschauungen dem Geiste fest und bleibend einprägen, so muß die Hand das Geschaute auch zugleich darstellen und zeichnen. Denn wie Zunge und Ohr so stehen Hand und Auge in lebendigster Beziehung und leisten gegenseitig Hülfe. Das bloße Anschauen der Landkarte z. B. prägt- das Bild der Seele nicht dauernd ein, der Lehrer muß das Kartenbild an der Tafel entstehen und die Schüler nachzeichnen lassen. Ebenso muß bei der Betrachtung der Blüthen, Blätter und Wurzeln der Pflanzen der Köpfe, Gebisse, Skelette der Thiere das Angeschaute durch eine Zeichnung wiedergegeben werden. Wie unentbehrlich dem Naturforscher, der mit dem Mikroskope arbeitet, das Zeichnen ist, bedarf nur der Erwähnung. 6. Die bisher entwickelte Bildung (allgemein menschliche oder religiöse, nationale, staatliche und der Mensch in Beziehung zur Natur) macht die Stoffe der allgemeinen Bildung jedes Volles aus. Daß diese Bildung streng national, sehr hoch sein kann, ja daß diese Abgeschlossenheit und gesunde Einseitigkeit einem Volke Kraft, weil Zusammenhang und durchgreifende Einheit im staatlichen, wissenschaftlichen und Kunstleben gewährt, lehrt am überzeugendsten das kleine Griechenvolk des Alterthums. Daß das Preisgeben des Nationalen und die Liebe zum Fremden nicht bloß Verkommenheit und Zerfahrenheit in Kunst und Wissenschaft sondern auch im Staatsleben Verfall und Schwäche zur Folge hat, lehrt ebenso überzeugend Deutschland. Sollen demnach die Völker sich wieder national und staatlich scharf von einander sondern, die Vortheile, welche die gegenseitige Berührung (der internationale Verkehr) ihnen allen bringt und gebracht hat aufgeben? Ja wenn sie es wollten, könnten sie es? Die Vereinigung und Ausgleichung des Nationalen und Internationalen scheint uns am natürlichften in diesem zu liegen: Jedes Volk entwickelt sich national und staatlich eigenartig, jedes aber bewahrt sich Sinn, Verständniß und Anexerkennung für d e s a n d e r n E i g e n t h ü m l i ch k e i t und dieser Eigen- thümlichkeit Berechtigung. Es ist nicht nöthig, daß in jedem einzelnen Gliede eines Volkes dieser Sinn und dieses Ver- ständniß vorhanden ist, sondern es kommt nur darauf an, daß in einem Volke eine genügende Anzahl von Leuten vorhanden ist, welche die Verbindung des eigenen Volkes und der eigenen Nationalität mit den fremden unterhalten und vermitteln. Diese Vermittlung des Nationalen mit dem Fremden zu unterhalten, ist Sache der Gebildeten und der sogenannten höhern Bildung.