Evangelischen obergymnasiums, Bistritz, 1871

. 2 nicht, nicht die Bodengestalt und Beschaffenheit, nicht was die Erde in ihrem Innern birgt, nicht was des Arbeiters fleißige Hand schafft, welche Bedürfnisse sein eignes Land befriedigt, welche die Fremde. Wie fehlt ihm die Fertigkeit der freien Rede! wie fehlt sie auch Andern! Die parlamentarischen Debatten werden allenthalben so endlos ausgesponnen, weil selten einer der freien Rede Herr ist, selten einer geübt ist aus des Gegners Rede die springenden Gedanken herauszufinden und in scharfer klarer Weise zu widerlegen. Ost hört man von Männern aus vorgerückterem Alter die Klage, daß sie bei dem redlichsten Willen nach angetretenem praktischem Berufe die Lücken in ihrem Wissen nicht mehr- haben ansfüllen können. Entweder fehlte ihnen die Zeit und die geeigneten Hülssmittel oder wußten sie das fremde Ding nicht beim gehörigen Ende anzugreifen und wenn dies leidlich ging, war das Ge- dächtniß nicht mehr willig den Gedächtnißkram, den jede Wissenschaft hat, das rein Thatsächliche aufzunehmen und festzuhalten. So bleiben sie auf das Wissen angewiesen, das sie sich in der Jugend angeeignet haben. Wohl ist es nicht möglich und nicht nöthig, daß jeder Gebildete die ganze Bildung seiner Zeit in sich vereinige und darstelle, dennoch ist eine gewisse Vielseitigkeit unabweisbar. „Bei einem gebildeten Manne wird heutzutage Be­kanntschaft mit den geographischen Verhältnissen, der Geschichte und Literatur seines eigenen Volkes und ebenso der Völker vor uns und um uns vorausge- sezt, sowie nicht minder die Kenntniß fremder Sprachen; er muß für die, die Zeit bewegenden staatswisfenschaftlichen und socialen Fragen ein Verständniß erworben haben, darf mit den Fortschritten der Naturwissenschaften nicht unbe­kannt und auch den wichtigsten Fragen der Philosophie und Aesthetik nicht fremd sein." (Wiese O. S. 15.) Der Schlendrian, d. h. die Abneigung neue Gedankenwege zu gehen, die noch nicht breit getreten sind, die Unfähigkeit vieler Schulmänner für neue Ziele Mittel und Wege zu finden, schrecken vor dieser Ausgabe gleichmäßig zurück: weil aber Niemand gerne Schlendrian oder Unfähigkeit eingesteht und offen be­kennt, so versteckt man sich hinter Idealismus und schimpft jedes Erfassen vernünftiger und klarer Ziele in der Jugendbildung als Materialismus, dem entgegen zu wirken sich Schlendrian und Unfähigkeit noch gar zu hohem Verdienste anrechnen; oder aber man schiebt den Formalismus vor und sagt: da die Schule den unendlich vielseitigen und unablässig'wechselnden Bedürfnissen des Lebens doch nicht gerecht werden könne, so müsse sie sich begnügen mit dem Allgemeinsten, mit der Uebung der geistigen Kräfte überhaupt (der formalen Bildung) gleichviel an welchem Stoffe. Den Inhalt für die Form, die materiale Bildung müsse sich Jeder im Leben selbst suchen. Aber die schwachen Stellen in dem Schilde, welchen der Formalismus . vorhält sind gar zu deutlich: ohne einen Gedanken st off kann man die Form des Denkens nicht gewinnen. Also muß ein verständiger Unter­

Next

/
Thumbnails
Contents