Evangelischen obergymnasiums, Bistritz, 1871

25 tiefung in die Muttersprache und ihren Geist eine hervorragende Bedeutung in der Schule und erfordert die sorgfältigste Pflege. Wie man im humanistischen Zeitalter durch das Latein die Kinder ihrer Nationalität entfremdete, so ist es das berechtigte Sieben -unserer Zeit und jedes Volkes die Kinder durch die Vtnttersprache fest und innig mit dem Volks­ganzen zu verknüpfen. So hat der Unterricht in der Muttersprache also eine hohe politische Bedeutung. E s kommt aber noch etwas hinzu. Wie sehr auch die Mittel der Ge­dankenmittheilung (durch die Schreib- und Buchdruckerkunst, Telegrafie rc.) ver­mehrt sind, so bleibt dennoch die vollkommenste Art, die unmittelbare durch das lebendige Wort und die freie Rede. Nachdem längere Zeit die Staatsverwaltung ans die Schrift angewiesen war, kehrte mit dein constitntionellen Leben naturgemäß auch die erste und beste Art der Mittheilung durch das lebendige Wort zurück. Parlamentarische Einrichtungen sind nur möglich und können gedeihlich werden, wenn viele tüchtige Redner vor­handen sind. Sind nur Einzelne da, so herrscht und siegt unvermeidlich die Zungen- und Redefertigkeit oft über die Redlichkeit und Einsicht. Darum wen­dete man in der Jugendbildung zu Athen und Rom allen Fleiß auf die Aus­bildung der freien Rede, ja in der Redekunst gipfelte der ganze Jugendunterricht. Es ist auch bei uns heute noch wahr, daß der Mann im öffentlichen Leben so viel gilt, als er der freien Rede mächtig ist. Erfordert nun aber schon der schriftliche Gedankenansdruck eine lange und sorgfältige Uebung, wie viel mehr die freie Rede! Da ist nöthig nicht nur schnelles und scharfes Denken, sondern auch die vollkommenste Herrschaft über den Sprachschatz, daß jedem Gedanken sofort das angemessenste Wort sich einstellt, daß die Gedanken nicht durch Wort­schwall verdunkelt werden u. s. w. Gerichte, Kanzeln, Lehrstühle, Ständeversammlungen, Vereine aller Art fordern Redner und weder mit Geist noch mit Kenntnissen ist Unbehülflichkeit in dieser edelsten aller Künste zu ersetzen, während der Einfluß eines guten Redners zu seinem und dem allgemeinen Nutzen unermeßlich sein kann. Zur Bildung und ersprießlichen Wirksamkeit der Gebildeten im Leben ge­hört Vertiefung in den Geist und die Litteratur der Muttersprache, Gewandtheit und Sicherheit nicht nur in der Schrift, sondern auch in der Rede. (Wie diese erzielt werden kann, davon tm Anhänge.) 3. Nicht nur religiös und national sind die Menschen bestimmt, sondern sie werden auch in einen Staat hineingeboren, in dem sie einst als Männer wirken und an dessen Erhaltung und Leitung ihr eigenes Gedeihen und ihre eigene Wohlfahrt hängt. Bürger, in denen nicht Gemeingeist lebt, die nicht das Bewußtsein haben, daß ihr kleines Wohl mit dem des Ganzen aufs Innigste verwachsen ist, die nicht wissen, wie viel Sorge und Arbeit den Vorfahren

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