Evangelischen obergymnasiums, Bistritz, 1871

9 Die aí igémét ne Bildung hat ihren Gegensatz erstens an der be- sondern oder Berufsbildung zweitens an der fremder Völker. Allgemeine Bildung schreiben wir demjenigen zu, der le- bendigen Antheil nimmt und Verständn iß hat für Alles, was von religiösen nationalen Dingen seine Zeitgenossen im engern Kreise der Gemeinde, im weitern des Staates und ganzen Volkes im weitesten der wichtigsten CulturVölker bewegt. Das rechte Verständniß dieser Dinge kommt aber erst dem, der weiß, wie das, was ist, geworden ist. Die allgemeine Bildung umfaßt mithin nicht nur die Gegenwart sondern auch die Vergangenheit und ist zum Theile ge­schichtliches Wissen. Die allgemeine Bildung erheischt aber nicht die Kenntniß der ganzen Vergangenheit, sottdern diese nur so weit, als sie noch in derGegenwart lebendig ist. Alles andere ist gelehrtes Wissen, und gehört der gelehrten Bildung an. Mit seltener Klarheit hatte diesen Unterschied zwischen Gelehrsamkeit und Bildung erkannt König Friedrich Wilhelm I., "der seinen Sohn Friedrich II. in den todten Sprachen zu unterrichten verbot, dagegen befahl ihm die Geschichte des branden- burgischen Hauses und der letzten 150 Jahre ganz und voll zu eigen zu machen; er wünschte eben seinem Sohne auf dem Throne Bildung, keine Gelehr­samkeit. Darin, daß man diesen Unterschied zwischen Bildung tlnd Gelehrsamkeit nicht erfaßt und den Gelehrten einseitig die Einrichtung der Jngendbildnng über­lassen hat, liegt die Ursache der Mangelhaftigkeit unserer Mittlern und höhern Bildung sanstalten; unbewußt hat man sie zu Gel ehrten-Schulen gemacht. Was Wunder, wenn ihre Leistungen den Erwartungen nicht entsprechen. Ans der allgemeinen Bildung, der religiösen und nationalen muß die besondere, die Fach--, Berufs- und Standesbildung ruhen. Kern und Stamm unserer deutschen Bildung kann vernünftigerweise nicht im griechischen und römischen Alterthume nicht in der französischen und englischen Sprache und Litteratur gesucht werden, sondern liegt in der Erkenntniß und Erfassung unsers deutschen Lebens in Kirche, Staat, Sprache und Litteratur, Kunst und Wissenschaft. Das ist der Boden auf dem wir Alle, Gebildete und Ungebildete stehen; aus dem wir, wie wenig wir einander versteht! uns wieder­finden müssen. In der nationalen Bildung ist die Centripetalkraft, die um so stärker werden' muß, je mächtiger die CentrifNgalkraft der Fachbildung wird. Einleben muß sich jedes Kind vor allem in seines Volkes Leben und Sprache; auf­nehmen muß es vor allem in sich alles Das, was seines Volkes Herz bewegt und treibt; was seines Volkes Pulse höher schlagen läßt. Liebe und Ver­ständniß der vaterländischen Art und Sitte, Denk- und Sprechweise muß es

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