Evangelischen obergymnasiums, Bistritz, 1864
53 Ohne Bedenken habe ich die Schattenseiten des Familienlebens berührt, weil in seiner großen Mehrzahl noch gesunde Kraft und Innigkeit wohnen, welche von den Auswüchsen nicht überwuchert werden können, wie aus dem. den Ehescheidungen vorangeschickten, über das Familienleben Gesagten mit Sicherheit zu erwarten ist. Das Leben außer der Familie, die vielartige Gesellschaft und ihre Anschauungen können in vielen Fällen nur aus dem Zusammenwirken der eigensten Volksnatur und Beschäftigung, der früheren Gau- und Landesverfassung nnd der Ansichten über Standesunterschied in weiteren Kreisen, vollständig erklärt werden. Abends sitzen noch immer wie zur Väter Zeit die Nachbarn auf der Hausbank zusammen, nur, daß der Weinkrug nicht mehr von Hand zu Hand wandert, und statt der nahen Umgebung die fernen Länder den interessantesten Stoff für die Unterhaltung liefern. Noch immer wandert an schönen Sommer- Sonntcrgen ein guter Theil aus der Stadt hinaus „ins Grüne," in einen Baumgarten oder naben Wald zu frohem geselligem Schmaus. Auf dem Lande wird dagegen gerade der Sonntag zur Heimsuchung der Verwandtschaft benützt und fragt man die spät heimkehrende Frau wo sie gewesen, so antwortet sie mit den treffenden Worten „an der Zeile." — Bei allen Zusammenkünften spielt der Wein eine Hauptrolle ein Bauer antwortete mir voriges Jahr auf meine Frage, ob viele Hochzeiten im Fasching zu erwarten stünden: „nein, denn sie wissen ja, es ist kein Wein gerathen." Trunksucht hat dabei schon manche Opfer an Familienglück und Wohlergehn gefordert, ich brauche nur. auf die vorangegangene Uebersicht der Scheidungsgründe zu verweisen und auf die That- sacke, daß der hier und da vorkommende Wahnsinn größtentheils Säuferwahnsinn ist. In solchen Fällen ist aber immer Branntwein, nicht Wein die Veranlassung. — Bei jeder Gelegenheit tritt die Empfänglichkeit auch für geistigere Genüsse offen hervor. Die nicht gerade ausgezeichneten wandernden Schauspieler, reisende Musiker finden immer ihr dankbares Publikum. In neuerer Zeit beginnt der Männergesang sich in immer weitere Kreise zu verbreiten, außer in Bistritz bestehen noch in. fünf Dorfgemeinden Gesangvereine, von denen besonders die Vereine von Petersdorf und Jad volle Anerkennung verdienen. Im Nösner Gau findet sich keine Aristokratie ' der Geburt. Adlige nämlich gibt es gar keine und die Famil'en der früheren Beamten und Reichen sinken in ganz wenigen Geschlechtern wieder hinab, während andre, neue Leute sich emporarbeiten. So ist die überwiegend große Mehrzahl der jetzigen Beamten. Geistlichen dem Bauernstände und dem niederen Gewerbe entsprossen. Man sollte daher erwarten, daß eine ziemlich stark demokransche Strömung sich überall zeigen werde. Dem ist aber nicht also. Auf dem Lande wie in der Stadt, gilt die, freilich meist nur ein oder zwei Geschlechter alte Familie, oder