Budapest und Wien. Technischer Fortschritt und urbaner Aufschwung im 19. Jahrhundert - Veröffentlichungen des Wiener Stadt- und Landesarchivs 9. - Beiträge zur Stadtgeschichte 7. (Budapest - Wien, 2003)
Eva Offenthaler: Der öffentliche Verkehr in Wien
122 Fußgänger tatsächlich keineswegs unproblematisch. Immer wieder ist von der Gefahr die Rede, von Wagenpferden überfahren zu werden, die beispielsweise mit großer Geschwindigkeit aus einer Seitengasse herauseilen, um so eher, als es noch keine Bürgersteige gab, die die Kutscher daran gehindert hätten, bis dicht an die Häuser heranzufahren. Der Wiener Arzt Nikolaus Theodor Mühlibach widmete in seiner Abhandlung über „die den Bewohnern Wiens für Gesundheit und Leben vorzüglich gefährlichen, aus den Ortsverhältnissen entspringenden Einflüße“ (1815) dem Thema einen eigenen Abschnitt, worin es unter anderem heißt: Wer eine längere Zeit in Wien gelebt hat, und öfters genöthiget war, zu Fuß durch die Stadt zu gehen, erlangt eine, man möchte sagen, fast aus Noth herbeygeführte Kühnheit, dergleichen Wagestücke zu unternehmen (d. i. eine Gasse zu überqueren); wenn er anders nicht oft eine längere Zeit wartend auf der Gasse müßig stehen will, bis ihm die Pferde erlauben seinen Weg fortzusetzen. Dieser Ordnung muss sich dann jeder Fußgänger (...) unterwerfen; (...) Was denn doch klar beweist, dass die Pferde, ob sie gleich auch nur zu Fusse gehen, ein Vorrecht vor den zweyfüßigen Fußgehern haben} Mühlibach vermittelt uns einen lebhaften Eindruck vom Verkehrsaufkommen im Wien des jungen 19. Jahrhunderts: Man stelle sich zum Beyspiele den Michaelerplatz vor, wo die rennenden Wagen oft fast zur nämlichen Zeit, vom Josephs-Platze, aus der Burg, aus der Schauflergasse, aus der Herrngasse, vom Kohlmarkte und vom Vögelmarkte gleichsam gegen einen Punkt zusammen kommen, und die da sich befindenden Fußgänger gänzlich umringen; so erregt schon der blosse Gedanke eine Art von sorgenvoller Bangigkeit,1 2 Die Anzahl der Wagen und Fuhrwerke, die durch Wiens Straßen rollten, nahm in den folgenden Jahrzehnten noch stark zu, die Haltung von Pferden und Wagen wurde quasi zum gesellschaftlichen Muss. Unter dem Stichwort „Wagen-Luxus“ findet sich in Reális’ Lexikon eine höchst lesenswerte Schilderung der Situation um das Jahr 1846. Vorüber seien die Zeiten, „wo mancher Fürst zu Hause blieb, weil die Fürstin mit der einzigen Kutsche aus gefahren war.“ Was früher Gegenstand des Luxus war, sei nunmehr allgemeines Bedürfnis: Man zählt in Wien bereits 20.000 Wagen, 6.000 Privatpersonen haben ein eigenes Fuhrwerk, und laut Reális sind drei Viertheile der Straßen und öffentlichen Plätze von den Wägen in Beschlag genommen. Mit Reális ... muß man sich wundern, daß auf den Trottoirs noch Fußgeher angetroffen werden und daß es überhaupt noch Leute gibt, die sich in dieses lebensgefährliche Durcheinander von rennenden Pferden und rasselnden Rädern hineinwagen.- Cabriolets vom Lande und aus der Stadt, Fiaker, 1 Nikolaus Theodor MÜHLIBACH, Wien von seiner übelsten Seite betrachtet, 138. 2 Ebenda, 136.