Kiss Katalin: Industrielle Baudenkmäler - Unser Budapest (Budapest, 1993)

Die alten Zeugen industrieller Architektur erwecken selt­same Gefühle. Sie sind anders als die übrigen Gebäude. Hier lebten die Menschen nicht, hier wurde etwas er­zeugt, etwas geschaffen. Schwarze Kohle, duftendes Holz, schwellendes Getreide verschwanden im Inneren der Werke, wo geheimnisvolle Dinge mit ihnen gescha­hen. Sie wurden trocken gebrannt, zersägt, gemahlen, und am andern Ende des Betriebs warteten unverfroren schon die Lastwagen auf sie. Die Fabrik hatte Schätze und Geheimnisse, welche sie mit schweigsamen Arbei­tern mit zerfurchten Gesichtern und schwieligen Hän­den teilte, die von ihr erzählten und von jenen Zeiten, als sie beide noch jung waren, und auch von jenen, als sie einander noch gar nicht kannten. Unbemerkt glich sich die Stundenuhr der Menschen an die Schicksalswendungen der Fabrik an. Der alte Arbeiter von der Schiffswerft sagte z. B.: „Als wir die Maschinen vor dem Hochwasser retteten...“ Es tut sich uns hier eine wunderbare Welt auf, lebende, durch Menschenschicksale gefilterte Geschichte. Was der Mensch erbaut, überlebt ihn meist. Ein noch ziemlich gut aussehendes, verlassenes Betriebsgebäu­de erweckt jedoch dasselbe Mitgefühl wie ein herrenlo­ser Wachhund. Mach einem nützlichen Leben voller Aktkvität werden wir zu Zeugen eines langsamen, oft qualvollen Sterbens. Die innerstädtischen Gebäude er­leben oft ein besseres Schicksal: früher oder später finden sie doch einen neuen Besitzer, wie z. B. der Burggarten-Kiosk oder das Transformatorenhäuschen aus der Markó utca; die Lage der großen Hallen und Anlagen in den äußeren Bezirken der Stadt ist jedoch viel ernster. Den Gebäuden der Óbudaer Schiffswerft, der Ganz-Werke und des Schlachthauses können nur noch Geduld und ein Wunder helfen. Die größte Schick­salsprüfung, welche die rasende Zeit uns auferlegt, ist wohl, daß wir solche Sachen noch selbst erleben müs­sen. Der alte Mechaniker selber muß alte, noch funktio­nierende Maschinen verschrotten, die bei Gründung der Fabrik vielleicht er selber montiert hatte. Der Beginn der industriellen Revolution ist wirklich der bedeutendste Wendepunkt in der neuzeitlichen Ge­schichte der Menschheit. Die alten Städte wuchsen schnell über ihre jahrhundertealten Mauern hinaus, und ihre Ausbreitung setzen sie auch heute noch fort. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Budapest mit seinen sie­benhunderttausend Einwohnern zur zehntgrößten Stadt Europas, wo sich ein Viertel der Industrie des 5

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