Ferkai András: Wohnsiedlungen - Unser Budapest (Budapest, 2005)

sozusagen in die unberührte Natur gelangte. Wehalb funktioniert dieses System dann nicht? Daß es nicht funktioniert, davon zeugen das Allgemeinbefinden der hier Wohnenden, das Fehlen des Straßenlebens, der verfallene Zustand der Umwelt. Iván Szelényi und György Konrád, die Ende der sechziger Jahre die Sozoi- logie der neuen Wohnsiedlungen erforschten, haben den Grund dieser Probleme zum Teil im Vorstadt-Gepräge der Wohnsiedlungen (die von den Arbeitsplätzen und zentralen Institutionen getrennte Siedlung mit einer einzigen Funktion: eine Schlafstadt) gesehen, teilweise jedoch darin, daß die verhältnismäßig guten Wohnungen die Leute sozusagen von den reizarmen städtischen Plätzen, welche außerstande sind, die Agorafunktion zu erfüllen, „einsaugen". Wenn wir uns über­legen, daß Árpád Mester sich entlang der 40-70 m breiten Hauptstraße mit geteil­ter Fahrbahn, in den Erdgeschoßen der 100—200 m langen und 30 m hohen Plat­tenbauten eine städtische Umwelt vorstellte, können wir uns nicht wundern, daß das Leben seine Erwartung nicht bestätigt hat. Die Nyírpalota üt ist keine Váci utca (Fußgängerzone in der Innenstadt). Auf der Maquette, auf einer Luftauf­nahme sieht das vielleicht gut aus, doch in Augenhöhe der Fußgänger ist unsicheres Gelände, welches zwischen den Häusern „hinausfließt": es unterscheidet sich kaum von dem Parkgelände hinter dem Haus, welches auch öffentlich (d. h. herrenlos) ist. Während Architekturkritiker sich für die als wirkliche Stadt und nicht als Wohn­siedlung empfundene Újpalotaer Siedlung begeisterten, sahen die Soziologen und auch einzelne Stadtplaner ganz genau, daß sie bloß im Zeichen des Mytho- <5e<5 der „städtischen Stadt” konzipiert war. 1978 schreibt Szilvia Sz. Urbanek in der Zeitschrift Magyar Építőművészet (Ungarische Architektur): „Die urbane Stadt iit nicht bloß ein den rationalen, gesundheitlichen und verschiedenen »Schutz-« und »Bequemlichkeits-« Kriterien in jeder Hinsicht entsprechender, konkret formulierbarer Raumanspruch, eine Funktion, welche eine zur Befrie­digung der gemeinschaftlichen lind individuellen Lebensform gleichermaßen geeignete Struktur ist, welche den Fahrzeug- und Fußgängerverkehr sichert, sowie die ungestörte Funktion der Kindererziehungs-Institutionen, ein ent­sprechendes Maß an Besonnung, und die optimale Befriedigung der Ansprü­che gegenüber der Infrastruktur [...] Stadtbau ist nicht ausschließlich eine architektonische Aufgabe, die »Wirklichkeit« der Stadt kann nicht duch eine einzige charaktervolle schöpferische Geste wahrgenommen werden". Nicht nur davon ist die Rede, daß Lebensqualität mehr bedeutet als die Befriedigung elementarer physiologisch-biologischer Ansprüche, als datenmäßig meßbare Werte, daß man mit den psychologisch-soziologischen Auswirkungen der Raum­struktur rechnen muß, sondern davon, daß es ab ovo unmöglich ist, durch eine paternalistische Geste — von oben her — eine Stadt ins Leben zu rufen und diese als ein in sich selbst geschlossenes architektonisches Werk zu planen. Das Prob­lem ist nicht die Stadtplanung oder die Erscheinung der Häuser, sondern die 70

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