Radek Tünde - Szilágyi-Kósa Anikó (szerk.): Wandel durch Migration - A Veszprém Megyei Levéltár kiadványai 39. (Veszprém, 2016)
4. Folgen von Migrationsprozessen auf die Literatur - Hammer Erika: Ein Entwurf von der Welt. Bewegung als Ver-Wandlung der Welt in der Poetik von Herta Müller
Hammer, Erika: Ein Entwurf von der Welt 257 Anspielungen eingesetzt werden (Helmers 1984a: 28)8. Das Wahrgenommene ist eingebettet in raumzeitliche Erfahrungshorizonte, wir nehmen alles in Zusammenhängen wahr (vgl. Waldenfels 1998: 199, 220). Es geht in Bezug auf Ordnung also immer um feste Nachbarschaften. Diese wer-den in der Prosa Müllers bewusst zerstört, um die Möglichkeit für die plötzliche Entstehung genuin neuer, noch nicht da gewesener Zusammenhänge zu schaf-fen. Hier bekommt die Kontingenz einen wichtigen Stellenwert, die ungewisse Ankunft in Raum und Zeit, was sich im Bild des Hinausschleudems oder Hinausgeschleudert-Seins manifestiert und so im Biographischen wie im Poeto- logischen eine zentrale Denkfigur zu sein scheint und was mit theoretischen Überlegungen zur Verfremdung korrespondiert. Die Dinge und die Worte sind nicht zur Deckung zu bringen. Müller diagnostiziert ein „Übergewicht der Dinge“, was die „Wörtergar nicht hergeben“ können, „weil sie nicht stehen bleiben“, sondern sich verflüchtigen (Müller 2009: 74, vgl. auch Müller 2001a: 30).9 Wegen dieser Diskrepanz zwischen Welt und Sprache werden hier neue Techniken des Erkennens und Sprechens stark gemacht Die neue Wahrnehmung, die gefordert und forciert wird, wird als eine Grenzüberschreitung verstanden (Müller 1995: 6, 7, 8) und betont die Kontingenz (vgl. Ehlers 2007: 12). Die sich erfindende Wahrnehmung wird wie ein Überfall (Müller 1995: 9) konzipiert, das richtige Hinsehen öffnet die „Möglichkeit für das IJnvorhersehbare“ (Müller 1995: 8), also das Neue, Überraschende. Das Neue kann als „kreative Umformung“ gelesen werden, in der sich Bilder der Außen- und Innenwelt vermischen, Wahrnehmung und Kopfgeburt nicht voneinander getrennt werden können. Es geht, wie Ottmers zeigt, um die Duplizität eines rezeptiven und kreativen Prozesses (Ottmers 1994: 281). Diese wird dem Bekannten, der Norm und einer berechenbaren Ordnung gegenübergestellt. Die Grenzerfahrung die hier betont wird, impliziert Sinneseindrücke, die die „etablierte^) Ordnungen und Wahmehmungsmodelle in Frage stellen und mithin an die Grenzen des Wahrnehmbaren führen“ (Ehlers 2007: 12). Diese Einstellung weise auf etwas, der Wahrnehmung Entzogenes hin oder vermittelte Eindrücke, die innerhalb eines Kontextes nicht als „sinnhaft interpretiert“ (Ehlers 8 Von der „Kopplung disparater Elemente“ als Modus der Verwunderung und eine Verfremdungstechnik spricht in Bezug auf Sklovskij auch Lachmann (1984: 326). 9 Stark gemacht wird hier auch das Schweigen, das viel mehr leisten kann als die Sprache. Sprache, Sätze existieren nur im Nacheinander, im Schweigen aber steckt die Fülle, im „Schweigen kommt aber alles auf einmal daher. [...] Es ist ein stabiler, in sich geschlossener Zustand.“ (Müller 2001a: 31).