Internationales Kulturhistorisches Symposion Mogersdorf 2007 in Kőszeg 3. bis 6. Juli 2007 (Szombathely, 2014)

Tibor Hajdu: Alte und neue Eliten in Ungarn in der Zwischenkriegszeit

noch seine Nachfolger - und nicht einmal die oppositionellen Parteien - bis 1918, also bis zum Sturz der Monarchie, in Zweifel. Dennoch scheint es so, daß sich zur Jahrhundertwende eine neue herrschende Klasse bildet. Die in ihrer Mehrheit deutschen Mitglieder der Militär-Elite heirate­ten oft ungarische Frauen — was auch nicht verwunderlich ist. In mehrere unga­rische aristokratische Familien gelangten auch jüdische Ehefrauen und noch mehr reiche jüdische Familien erhielten Adelstitel. Einige vornehme Aristokraten wur­den mit Vorliebe Vorsitzende von Aktiengesellschaften und Mitglieder von deren Vorständen. Und 1906 tritt in der zweiten Wekerle-Regierung der erste Staatssek­retär jüdischer Herkunft (Szterényi) auf, der in Wirklichkeit das Handels- und In­dustrieministerium leitet, allerdings nur im Rang eines Minister-Stellvertreters. Nach dem Wahlsieg von István Tisza im Jahre 1910 folgt eine neue liberale Welle: mit einem nichtadeligen Ministerpräsidenten armenischer Herkunft (Eászló Fukács), einem gebürtigen Juden als Verteidigungsminister (Baron Samu Hazai, de genere Kohn). Und nach dem Sturz der Regierung Tisza gegen Ende des Weltkrieges folgt dann der erste Minister jüdischen Glaubens (Vázsonyi). Während des Krieges be­kommen Munitionsfabrikanten den Titel „Baron” und es scheint so, als ob nach eng­lischem Muster eine einheitliche herrschende Klasse entstehe, die neben den alten, vornehmen Familien die Neureichen und natürlich auch die Generäle umfaßt.9 Liberalisierung ist aber nicht identisch mit Demokratisierung. Die neue Elite verschloß sich starr der Idee, auch Repräsentanten des Volkes oder der Kultur in ihre Reihen aufzunehmen. Die erstarkende sozialdemokratische Partei, die damals noch in jeder Hinsicht eine wirkliche Arbeiterpartei war, gelangte bis 1922 nicht ins Parlament. Als der Bauemführer András Achim 1905 zum Abgeordneten ge­wählt wird, entzieht ihm das Parlament der erstmals siegreichen Opposition mit abstrusen, an den Haaren herbeigezogenen Argumenten sein Mandat. Der nächste Fandwirt, István Szabó aus Nagyatád („nagyatádi” Szabó István), konnte 1908 nur so Abgeordneter werden, daß der Obergespan Aladár Graf Széchenyi bei der „offe­nen” Abstimmung demonstrativ als Erster für ihn stimmte. Szabó wurde allerdings bis zu den Revolutionen 1918/1919 nicht ernst genommen. Man ignorierte ihn und auch er selbst vermied es, Aufsehen zu erregen. Die Elite akzeptierte auch nicht wirklich die herausragenden Persönlichkeiten des kulturellen und wissen­schaftlichen Lebens; vor allem bei Medizinprofessoren kam es aber vor, daß sie einen Adelstitel erhielten. Bis 1905 war in der Tat ein großer Gelehrter (Loránd Eötvös) immerhin geborener Aristokrat der Präsident der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Nach 1905 können wir hingegen eine lange Liste derjenigen Personen aufstellen, die ausgezeichnete ungarische Wissenschaftler und Künstler waren, aber gerade eben nicht Mitglieder der Akademie wurden; dasselbe ist auch hinsichtlich der Universitätsprofessoren festzustellen, insbesondere im Bereich der Gesellschaftswissenschaften, die in Verbindung zur Politik standen.10 8

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