Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China

Georg Lehner - Monika Lehner Das Eintreffen der erbetenen Detachements verfehlte den von den diplomatischen Vertretern mit dieser Maßnahme intendierten Zweck, auf die chinesische Regierung Druck auszuüben: [...] - aber westlich von Peking war die ganze Provinz von Insurgenten überschwemmt und das Leben der Bahnbeamten und Missionäre in den entlegeneren Stationen war im höchsten Grade gefährdet. Viele waren in die Stadt gekommen und suchten Schutz in den Legationen, andere mussten durch Patrouillen eingeholt werden und noch andere fielen dem Fanatismus zum Opfer. Nur ein Teil der in der Provinz Zhili lebenden Ausländer vermochte auf mitunter spektakuläre Art nach Tianjin zu flüchten, wo man sich Anfang Juni 1900 noch einigermaßen sicher fühlen konnte.167 Am 4. Juni befürchteten die Diplomaten, dass durch die Zerstörung der Telegraphenlinien „ein Zustand des totalen Blocus in Peking einträte.“ Daher wurden die Regierungen ersucht, die Kommandanten ihrer auf der Reede von Dagu liegenden Kriegsschiffe anzuweisen, im Falle der vollständigen Unterbrechung der Eisenbahn- und Telegraphenlinie, die Beijing mit der Küste verband, geeignete Maßnahmen zum Entsatz der in Beijing Eingeschlossenen zu ergreifen. Von österreichischer Seite wurden daraufhin in Dagu 70 Mann bereit gemacht und dem Kommando des ranghöchsten Befehlshabers unterstellt. Am 7. Juni traf das Detachement in Tianjin ein: ln den folgenden Tagen wurden auch die Stationsgebäude in Anting [Anding], Langfang und Lofah [Luofa] niedergebrannt und der Schienenweg derartig zerstört, dass an eine Wiederaufnahme des Bahnverkehres mit Tientsin für lange Zeit nicht zu denken war.168 In seinem Bericht vom 20. August 1900 räumte Rosthom ein, dass die fremden Vertreter Anfang Juni die Lage trotz der düsteren Vorzeichen noch äußerst zuversichtlich beurteilt hatten, zumal sie damals weiterhin mit dem Zongli Yarn en in Kontakt bleiben konnten und eine Audienz am Qing-Hof ernsthaft erörterten. Auch die Nachricht, dass General Nie Shicheng mit rund 5 000 Mann europäisch geschulter Truppen einen gegen die etwa 25 Kilometer von Tianjin entfernte Bahnstation von Yangcun (heute: Wuqing) gerichteten Angriff der Yihetuan zurückgeschlagen habe, hätte den Optimismus der Diplomaten genährt. Die von höchster Stelle angeordnete Maßregelung des Generals Nie ließ die Yihetuan jedoch immer näher an die Tore von Beijing rücken „und täglich verkündeten neue Feuer das Umsichgreifen der Insurrection“. Die „vollständige Apathie“ des Zongli Yamen und die „Unthätigkeit aller übrigen Organe“ war einmal mehr offensichtlich geworden. Am 9. Juni gelangte das diplomatische Korps zu dem Schluss, dass der „Zustand des effectiven Blocus in Peking eingetreten“ wäre - die Telegraphenlinie war „auf einen einzigen Draht“ reduziert.169 Ebenda. Ebenda. HHStA, P.A. XX1X/14, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 1 (II. Serie), Peking, 20.8.1900. Diese Gefechte hatte auch Botschafter Graf Deym aus London berichtet (HHStA, P.A. XXIX/17, Deym an Gotuchowski, Bericht No. 32 B, London, 8.6.1900). - Vgl. dazu Purcell (1963), S. 248, 70

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