Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)
Vorwort / Einleitung
Hanns Haas Nunmehr gehören alle Großstaatsgebilde auf europäischem Gebiet der Vergangenheit an, und so selbstverständlich sie bis dahin den Zeitgenossen waren, so selbstverständlich scheint ihr Verschwinden und so schwach sind hier und dort die restaurativen Tendenzen ihrer Wiederherstellung. Auch die ehemals „herrschenden“ Nationen fanden und finden sich rasch in die neuen Verhältnisse, bei allen ökonomischen, sozialen und kollektiven psychologischen Folgeproblemen des Staatszerfalls. Zusehends verlagert sich die früher den Großstaaten zugewandte emotionale Bindung auf das Terrain der Erinnerungskulturen und der moralischen Aufarbeitung. Es ist gewiß ein schwieriges Erbe, mit dem sich heute die sowjetischen Nachfolgestaaten konfrontiert sehen. Vermutlich erleichtert den „befreiten“ Nationen ein nationaler Elan die Geschichtsaufarbeitung und Identitätsfindung, weil sie alle unangenehmen Erinnerungen, auch solche an eigene Verfehlungen, den Russen anlasten können. Auf den ohnehin sozial deprivierten Russen hingegen lastet die volle Bürde der Geschichte, berichtet Irina Scherbakowa in ihrem Referat „Der sowjetische Mensch in postsowjetischen Zeiten“. Die russsische Identitätssuche ist daher ein komplexer Prozeß der Geschichtsarbeit in mehreren Schichten und zeitlichen Schüben. Der schrecklichen Wahrheit des Stalinismus verweigert sich eine breite kritische Öffentlichkeit nicht, doch sie schwankt zwischen unreflektiertem Beklagen eigenen monströsen Verbrechertums, welches Stalin in der Hierarchie der Verbrecher einen höheren Platz als Hitler einräumt, und einer Strategie der „Entschuldung“, die alle Sowjetbürger tendenziell als Verfolgte und Opfer deklariert. Auf diese Weise verwandelt eine breite populare Strömung das moralische Problem von Schuld und Sühne in bloße objektive Systembezüge ohne subjektive Verantwortlichkeit. Irina Scherbakowa, Sozialwissenschaftlerin und Zeitzeugin, berichtet über die ganze Bandbreite dieser Reaktionen im vergangenen Dezennium, und zwar unter Bezugnahme auf das Bild vom „sowjetischen Menschen“, der, seiner heroischen Kultelemente des schöpferischen Proletariers entkleidet, zum herrschaftsunterworfenen, unmündigen, und zuletzt doch wundergläubigen Typus verkam und so gesehen den Systemwandel überlebte. Dieser vorwiegend negativen Bilanz einer zehnjährigen vergeblichen Identitätssuche entspricht schließlich die schon von Vertlib problematisierte Projektion von eigener Unzulänglichkeit auf fremde Schuldige, auf die Juden und vor allem auf die Kaukasier. Kurz gesagt: Das Neue hält nicht, was man sich von ihm versprach, daher der Griff in die nationalistische Mottenkiste, gelegentlich sogar in die nostalgische Verklärung der angeblich schönen Seiten des Stalinismus. Eine kritische Bestandsaufnahme der trotz aller inneren Bruchlinien dennoch polyglotten sowjetischen Welt im Sinne einer verspielten Chance ist noch ausständig. Die Habsburgermonarchie hinterließ gewiß ein weniger problematisches Erbe als das vielnationale (sowjetische) Rußland. Vor allem die Nationen Cisleithaniens, weniger jene des alten Ungarn, hatten in der Spätphase des Habsburgerreiches einen ungeahnten Emanzipierungsschritt bewältigt, der zwar nicht das soziale und kulturelle Gefälle zwischen ihnen beseitigte, aber einige von ihnen, vor allem die 10