Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Vorwort / Einleitung

Hanns Haas seit 1991 auf vielen Ebenen des kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kontaktes. Vermutlich wird erst die Konkurrenz des Englischen die Attraktivität dieser übernationalen Verkehrssprachen mindern. Ein weiteres Nachfolgeproblem ist nicht zu parallelisieren, da die Nationalsprachen des Habsburgerreiches 1918 alle sozialen und kulturellen Sphären abdeckten, während im Falle der sowjeti­schen Nachfolge die Norm der „kleineren Sprachen“ vielfach den neuen differen­zierten Anwendungsbereichen angepaßt werden muß. Die Frage der ethnischen und nationalen Identität wurde auf der Tagung vor al­lem am Beispiel der jüdischen Religions- und Traditionsgruppe beider Großstaaten erörtert. Die Geschichte der Juden im alten Rußland und der Sowjetunion ist eine Abfolge von Verfolgung, Verdrängung und Emigration, nur unterbrochen durch kurze Phasen von Anpassung und kultureller Selbstfindung. Zweimal, im Zeitalter der Aufklärung und in der Sowjetperiode, schien das Projekt einer grundlegenden Modernisierung mit der jüdischen Emanzipation vereinbar, doch stets kehrte die alte, seinerzeit religiös motivierte Judenfeindschaft im neuen säkularisierten Ge­wände als Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit zurück. Jüdische Geschichte wird in diesem, von Vladimir Vertlib entschlüsselten Wechselspiel von Integration und Exklusion vom Minderheitenschicksal zu einem wesentlichen Teil russischer Ge­schichte in ihrer ganzen Bandbreite von Öffnung und Abgrenzung, von Demokratie und Autokratie. Die Juden selbst waren diesen Rahmenbedingungen unterworfen, und sie orientierten sich an jenen Entwicklungen, die ein Optimum an Entfal­tungsmöglichkeit erlaubten, vielfach selbst um den Preis der kulturellen Selbstauf­gabe durch Assimilation. Immerhin erlaubte die frühe Sowjetperiode die Entfaltung einer, wenn auch säkularisierten jüdischen respektive jiddischen Literatur- und Kulturgeschichte. Als langfristig mehr attraktive Alternative zur Beheimatung wirkte jedoch die innere und äußere Abkehr von einem fremd gewordenen Ruß­land, sei es durch die zionistische Hoffnung auf die palästinensische Heimstätte, sei es einfach durch Emigration in ein weniger existenzgefährdendes Umfeld. Daher die immerwährende Auswanderung seit der Zarenzeit, unmittelbar nach dem Holo­caust, im Nachstalinismus und im aktuellen Exodus. Das habsburgische Österreich hingegen war die letzte ruhige Station der Juden in ihrem „europäischen Jahrtausend“. Auch die Juden lebten wie alle habsburgischen ethnischen Gruppen in mehreren Identitäten, und zwar einer auf den Staat bezoge­nen politischen, einer kulturellen deutschen beziehungsweise tschechischen und so fort sowie einer jüdischen, die je nachdem lediglich die Herkunft bezeichnete oder im zionistischen Sinne zur nationalen Gruppenbindung wurde. Die Juden konnten diese Mehrfachbindung nicht durch einseitiges Bekenntnis zu einem der National­staaten und einem „Volk“ auflösen, daher führte der Zerfall des Habsburgerstaates zugleich zu einer existentiellen Identitätskrise des Judentums, zu neuerlicher Erfah­rung von Heimatlosigkeit mitten in einer Welt nationaler Einengung und angesichts eines anwachsenden Antisemitismus. Franz Kafka schreibt von seinem Schwager, 8

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