Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Vorwort / Einleitung

EINLEITUNG von Hanns Haas Achtzig Jahre sind für ein historisches Ereignis kein runder Geburtstag und doch ein Anlaß zur Rückbesinnung auf das Jahr 1918, da erst jetzt nach dem Zerfall der Sowjetunion alle europäischen Großreiche der Geschichte angehören. Die Auflö­sung des Osmanischen Reiches begann schon im 19. Jahrhundert; die Balkankriege der Jahre 1911 bis 1913 teilten sein europäisches Erbe, das Weltkriegsende 1918 sein vorderasiatisches Gebiet. Auch die Dismembration der Habsburgermonarchie begann schon weit im 19. Jahrhundert mit dem Verlust seiner großen italienischen Provinzen Lombardei und Venetien. Diese territoriale Verkleinerung wurde durch die Erwerbung von Bosnien-Herzegowina auf Kosten des Osmanischen Reiches einigermaßen kompensiert, ein eigentümlicher Nachklang jener Machtpolitik, wel­che seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert die Habsburgermonarchie zu einer „Großmacht“ gemacht hatte.1 1918 zerfiel jedoch auch die Habsburgermonarchie entlang von historischen und/oder ethnischen Linien. Drei „Nationalstaaten“, Österreich, Ungarn und die Tschechoslowakei entstanden auf ihrem Staatsgebiet; drei weitere Staaten, Rumänien, Polen, Italien und Serbien (als „Jugoslawien“) vergrößerten ihr Staatsgebiet mit habsburgischem Erbe; diesem Kreis der Nachfol­gestaaten gesellte sich 1945 die Sowjetunion. Auf einer aktuellen Landkarte sind zwölf Staaten an der Erbengemeinschaft beteiligt: Österreich, Tschechien, die Slo­wakei, Polen, die Ukraine, Ungarn, Rumänien, Bosnien-Herzegowina, das neue Jugoslawien, Kroatien, Slowenien und Italien. Das russische Vielvölkerreich als dritter Vielvölkerstaat verlor infolge des Ersten Weltkrieges hingegen nur seine Randländer Polen, Finnland und die baltischen Staaten, konnte letztere sogar zu- rückerobem und überlebte als Sowjetunion weitere siebzig Jahre, bis die inneren Widersprüche und die Machterosion auch hier die innere Kohärenz schwächten und der Staat 1991 in seine nationalen Bestandteile zerfiel. Auch in den verwandten jugoslawischen und tschechoslowakischen Fallbeispielen begleiteten „nationale Revolutionen“ den Wechsel der gesellschaftspolitischen Ordnung. Der in vier chronologischen Schritten, von der Französischen Revolution über die Einigungskriege des 19. Jahrhunderts und die Dismembration der Kaiserreiche 1918 bis zum Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens abgelaufene säkulare Pro­zeß der Gründung von Nationalstaaten scheint damit abgeschlossen. Von geringen * ' Redl ic h , Oswald: Das Werden einer Großmacht. 4. Aufl. Wien 1962. 1

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