Sonderband 2. International Council on Archives. Dritte Europäische Archivkonferenz, Wien 11. bis 15. Mai 1993. Tagungsprotokolle (1996)
Opening Session / Séance d’ouverture
Opening Session - Séance d’Ouverture Peter Kostelka Sehr geehrte Herren Präsidenten, meine Herren Direktoren, meine sehr verehrten Damen und Herren, Für Außenstehende mögen Archive eine Sammlung toter Berge von Papier sein. Sie, und in der Zwischenzeit auch ich, wissen, daß das nicht so ist. Wohlgeordnet sind sie der Zugang zu Legionen von einzelnen Schicksalen, und nicht nur hiezu, sondern weit darüber hinaus zu einem wesentlichen, zu einem wichtigen Stück historischer Identität. Der Identität jedes einzelnen Staates und in diesem Sinne, meine Damen und Herren, sind Sie zu den Hütern der objektivsten Form der Geschichte der jüngsten aber auch älteren Geschichte geworden. Zu der Realität einer historischen Entwicklung ist der Zugang in vielen Fällen nur über Sie und die von Ihnen gehüteten Schätze möglich. Lassen Sie mich drei Beispiele nennen, die exemplarisch auch tief in mein eigenes politisches Wirkungsfeld hineinreichen. Als Zeitungsleser und Konsument von Periodika weiß ich, was es heißt - und mir scheint das kein unwesentliches Beispiel zu sein - mit dem enormen, gigantischen Archiv an Personenbeobachtungen der ehemaligen ostdeutschen Staatssicherheit fertig zu werden. Meine Damen und Herren, das ist nicht nur in meinen Augen eine Frage des Fertigwerdens mit der eigenen Geschichte, es ist auch in vielen Fällen der Zwang des Fertigwerdens mit der persönlichen, eigenen Geschichte. Es ist durchaus verständlich, daß - nicht in dieser konkreten Situation, aber in ähnlichen Zusammenhängen - in der Vergangenheit der Gedanke aufgetaucht ist, derartiges Gerümpel der Geschichte wegzuräumen. Wenn das geschehen wäre, und wo immer dies geschieht, wird auch ein Teil der eigenen Geschichte vernichtet und nicht mehr nachvollziehbar gemacht. Und das wäre ein unendlicher Schaden für die betreffende Nation, aber ebenso für die Geschichte der Menschheit ganz generell. Es ist nicht nur eine Frage der objektiven Bewältigung, und damit bin ich beim zweiten Beispiel, sondern auch der subjektiven. Es jährt sich der Tag der Schlacht bei Stalingrad nun in diesen Tagen zum fünfzigsten Mal. Und ich selbst bin erstaunt, welch tiefe Emotion eine Aktion eines Grazer Wissenschaftlers hervorzurufen imstande ist. Bei dieser deutschen Armee, die vor Stalingrad gekämpft hat, waren in deutscher Uniform auch viele Österreicher - mehrere Zehntausend. Und ein österreichischer Wissenschaftler hat in Moskau Daten über die damals Gefangenen, teilweise auch Gefallenen aufgefunden. Es ist eine Welle von Emotionen über dieses Land hinweggerollt, wo Kinder, wo Frauen, wo Verwandte ganz einfach wissen wollten: was ist mit meinem Vater, mit meinem Bruder, mit meinem Onkel, mit meinem Mann passiert. Dieser Zugang, sehr subjektive Zugang, der im Grunde genommen nur dem Einzelnen das Wissen um das Schicksal eines Angehörigen vermittelt, ist ebenfalls nur über diese Archive möglich gewesen. Ein drittes und ein letztes Beispiel. Auch wir haben jüngste Epochen einer blutigen Geschichte: den Bürgerkrieg vom Febmar 1934. Wirklich verstehen und auch 10