Katholischen Gymnasium, Schemnitz, 1854

6 chen, den Gedanken nach verschiedenen Richtungen lenken, mannigfaltige Ähnlich­keiten und Wahrscheinlichkeiten gegen einander stellend erwägen, um zum richtigen Ausdrucke zu gelangen. Auf diese Art entsteht eine wahre geistige Gymnastik, wo­durch die Vernunftthätigkeit vielfach angeregt, das Gedächtniß mit wirklichen Ide­en bereichert, der Geist im Denken geübt, das Urtheil gestählt, und selbst die Ein­sicht in die Muttersprache befördert wird. Ist der Jüngling durch das gramma­tische Studium mit der Etymologie, Wortfügung und dem eigenthümlichen Geiste der alten Ausdrucksweisen vertraut gemacht worden, wird er ferner angeleitet, mit einer zweckmäßig gewählten Lectüre Versuche zu machen, um sich allmälig selbst von dem Sinne des Schriftstellers zu überzeugen, schwierige Stellen selbstständig zu erörtern, ihre verschiedenen Figuren und Anspielungen zu verfolgen, jede Rede­form zu erwägen, ihre Schönheiten zu entwickeln. Durch dieses Verfahren er­wirbt sich der Schüler in der Folge einen reichen und zugleich korrekten Stil, eine Eleganz der Diktion, und gelangt zur richtigen Wahl im Gebrauch der Wör­ter; er wird zugleich in das Erhabene und Schöne, welches das Alterthum, die Wiege der Kunst und Wissenschaft bietet, eingeweiht und daran wissenschaftlich ge­bildet. Wenn also das Studium der altklassischen Sprachen von den ersten Ele­menten an, bis zum letzten Erforschen ihrer erhabenen Poesie mit einer tüchtigen Lehrmethode betrieben wird, gewährt es nebst der Mathematik die beste Vorberei­tung des Geistes für jene, die sich höheren Wissenschaften widmen und einst mit Kopfarbeit in höheren Kreisen der menschlichen Gesellschaft beschäftigt sein wer­den. In der That, wenn ein Jüngling auf solche Weise sich herangebildet, seine Denkkraft geübt, seinen Scharfsinn gestärkt, sein Vertrauen auf seine eigenen Kräfte durch erfolgreiche Anstrengungen vermehrt hat, so gibt er der sicheren Hoffnung Raum, daß er in dem Wirkungskreise, der ihm von der Vorsehung beschieden ist, sich seist Ebre und der bürgerlichen Gesellschaft vielseitig beglückende Vortheile bringen wird. Unrichtig ist daher die Ansicht derjenigen, die glauben durch den altklassi­schen Unterricht gehe viele kostbare Zeit, welche der Aneignung praktischer Kennt- niße gewidmet werden könnte, verloren, um so mehr, da das Bildende in diesem Studium ohnehin durch die Muttersprache ersetzt werden könne. — Allein Denken ist ja die nähere Bestimmung des Menschen, nicht Wissen. Nicht bloß die innere Würde des Menschen, auch seine Brauchbarkeit in der bürgerlichen Gesellschaft beruht nicht auf der Masse der erworbenen Kenntniße, sondern auf der Bildung der Denkkraft, durch welche er in den Stand gesetzt wird, seine Kenntniße anzu­wenden und den Umständen gemäß zu handeln. Die Zeit also, die zur Entwick­lung der Denkkraft durch eine treffliche Lehrart in diesem Studium erfolgreich angewendet wird, kann nicht als verloren betrachtet werden. Bevor junge Leute mit Nutzen zu praktischen Wissenschaften übergehen, ist es nothwendig, daß ihr Verstand an regelmäßige Übungen gewohnt sei, und durch diese Gewohnheit sie sich eine gespannte Aufmerksamkeit aneignen; nichts kann aber entsprechender dazu dienen, als die altklassischen Sprachen. Denn da sie vermöge ihrer unübertrof-

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