Leopold Auer - Manfred Wehdorn (Hrsg.): Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv (2003)

Geschichte - Michael Hochedlinger: "Geistige Schatzkammer Österreichs". Zur Geschichte des Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1749-2003

28 Geistige Schatzkammer Österreichs Haus-, Hof- und Staatsarchiv begonnen. Ludwig Bittner (1877- 1945), der 1926 die Direktion des Hauses übernahm, ist nicht nur selbst ein produktiver Historiker gewesen, er hat es auch ganz offensichtlich verstanden, seinen bald wieder aufgestockten Beamtenkörper zu beachtlichen eigenständigen wissenschaftlichen Leistungen anzuspornen. Sogar eine eigene Zeitschrift, die „Historischen Blätter", wurde von den Bediensteten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs herausgegeben. Das unstreitig größte Verdienst Bittners ist aber das 1936-1940 in fünf Bänden erschie­nene Cesamtinventar des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, dessen Erstellung er schon seit 1913 mit größtem Eifer betrieb. Zusätzlich vermochte er wichtige internationale Projekte im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu verankern, darunter insbesondere das durch das Comité international des sciences historiques lancierte „Repertorium der diplomatischen Vertreter", dessen erster Band 1936 erscheinen konnte. Hauptsorge der Archivare war nach dem Zerfall des Habsburgerreiches freilich die Verteidigung des über die Jahrhunderte im Haus-, Hof- und Staatsarchiv angesammelten archivalischen Erbes gegen die Ansprüche der Sieger- und Nachfolgestaaten. Denn natürlich ging es nicht nur um die Rückstellung von im Zuge der Kriegshandlungen erbeutetem Archivgut (z. B. des ab 1915 nach Wien verbrachten serbischen Archivs). An Archivalienabtretungen waren die Wiener Archivare gewöhnt. Schon der Verlust Venedigs im Krieg von 1866 hat zur Rückgabe wertvoller venetianischer Schriftschätze geführt (1868), aber das Verschwinden der Donaumonarchie 1918 schuf doch Probleme in einer nie dagewesenen Größenordnung, nicht nur für die archivalischen Schätze, sondern auch für die verschiedenen Kunstsammlungen des Kaiserhauses, die natürlich viel mehr im Rampenlicht des öffentlichen Interesses standen. Nicht zuletzt zur Verteidigung der staatlichen Archive wurde das Amt eines Archivbevollmächtigten des deutsch-österreichischen Staates eingerichtet, das bis 1924 Oswald Redlich (1858-1944) und als sein Stellvertreter Ludwig Bittner versahen. Sie haben in mühsamen bilateralen Verhandlungen dafür gesorgt, daß trotz weitreichender Zugeständnisse weit über die Verbindlichkeiten des Friedensvertrags von Saint-Germain (1919) hinaus organisch gewachsene Archivkörper nicht völlig zerrissen wurden. Mit Ungarn hat man schließlich 1926 für die drei „gemeinsamen" Zentralarchive eine besondere Regelung getroffen („Badener Abkommen"), die der speziellen staatsrecht­lichen Konfiguration der Donaumonarchie Rechnung trug: Bestimmte, bei „gemeinsa­men" Behörden zwischen 1526 und 1918 gebildete Bestände des Hofkammerarchivs, des Kriegsarchivs und des Haus-, Hof- und Staatsarchivs wurden zum gemeinsamen kulturellen Eigentum Österreichs und Ungarns erklärt und verblieben an ihrem histori­schen Aufbewahrungsort in Wien. Seit 1927 bestehen - mit nur kurzen Unterbrechungen - in Durchführung dieses Archivabkommens eigene ungarische Archivdelegationen für das Kriegsarchiv, das Haus-, Hof- und Staatsarchiv und das Hofkammerarchiv. Den tatsächlichen Verlusten an Italien, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Ungarn, Rumänien und Polen und der höchst unsachgemäßen Aktenvertilgung durch unge­schulte Organe des sogenannten „Ersparungskommissärs" im Bereich der Hofarchive standen aber auch beträchtliche Zuwächse durch Aktenabtretungen liquidierender Behörden und Dienststellen gegenüber: insgesamt fielen dem Archiv bald nach 1918 25.000 Faszikel und 7.000 Bände zu. Dazu kam natürlich weiterhin die Übernahme von archivreifem Verwaltungsschriftgut und Staatsurkunden. Verfügte das Archiv 1868 Ludwig Bittner (1877-1945), Direktor 1926-1940

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