1100 Jahre österreichische und europäische Geschichte in Urkunden und Dokumenten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs (1949)

1100 Jahre österreichische und Europäische Geschichte - Einleitung

Die Urkunde hat aber darüber hinaus die allergrößte Bedeutung als Geschichtsquelle. Die erzählenden Geschichtsquellen, die Annalen, Chroniken, Lebensbeschreibungen und sonstigen Werke der Geschichtsschreibung sind entstanden mit dem ausdrücklichen Zweck und in der bewußten und be­stimmten Absicht, Geschichte zu schreiben und geschichtliche Vorgänge zur literarischen Darstellung zu bringen; daher sind alle diese erzählenden Quellen notwendig subjektiv und persönlich gefärbt, was selbst­verständlich strengsten Wahrheitswillen nicht ausschließt. Der Geschichtsschreiber ist in seiner Arbeit ab­hängig und bestimmt durch seine geistigen, seelischen und körperlichen Eigenschaften, durch Abstammung, Volkszugehörigkeit, Heimat, Umgebung, Erziehung, Weltanschauung und politische Einstellung. Selbst bei der einfachsten Art der Geschichtsschreibung, beim annalistischen Tatsachenbericht, tritt dieses Persönliche und Subjektive schon in der Auswahl der verzeichneten Ereignisse und Tatsachen in die Erscheinung. Ganz anders liegen die Verhältnisse bei den Urkunden. Sie Averden nicht hergestellt in der Absicht, die Kenntnis geschichtlicher Ereignisse zu überliefern und sie verfolgen nicht den Zweck, Geschichte zu schreiben. Die Urkunden erwachsen vielmehr, wie wir bereits oben ausgeführt haben, aus dem prak­tischen Rechtsleben des Alltags; sie sind der objektive und tendenziöse Niederschlag dieses Rechtslebens. Infolge ihres inneren Zusammenhanges mit den Ereignissen und Tatsachen, deren Teil und Überrest die Urkunden bilden, kommen alle subjektiven und persönlichen Faktoren, die wir bei den historiographischen Quellen feststellen, möglichst in Wegfall. Diese besondere Eigenart der Entstehung und der Stellung der Urkunde ist der Grund dafür, daß den Urkunden als Geschichtsquelle ein außerordentlich hoher Grad von Objektivität und Tendenzlosigkeit zukommt, so zwar, daß sich uns die Urkunde als die weitaus ver­läßlichste und exakteste Geschichtsquelle schriftlicher Art darbietet. Diese Verläßlichkeit und Exaktheit der Urkunde kann freilich durch die allen menschlichen Schöp­fungen anhaftenden unbeabsichtigten Fehler, Irrtümer und Ungenauigkeiten einerseits und durch die in bestimmter Absicht, zu persönlichem Vorteil, aus Gründen des Ehrgeizes oder zu politischen oder welt­anschaulichen Zwecken durchgeführten Fälschungen, und Verfälschungen anderseits mehr oder weniger beeinträchtigt oder gänzlich in Frage gestellt werden. Es ist Aufgabe der hochentwickelten Urkunden­kritik, Echtheit bzw. Unechtheit der Urkunden festzustellen und so diese wertvolle Geschichtsquelle der Verwendung für Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung zugänglich zu machen. ❖ ❖ Organisch erwachsene Sammlungen von Urkunden, aber auch die Räume, in denen solche Samm­lungen auf bewahrt werden, nennt man Archive. Wir unterscheiden demnach Archive im engeren Sinne, Archive im weiteren Sinne und Archive im übertragenen Sinne. LTnter Archiv im engeren Sinne oder Archivkörper versteht man die Gesamtheit aller Urkunde n- bzw. Schriftbestände, die aus dem schriftlichen Verkehr einer physischen oder juristischen Person organisch erwachsen sind, soweit sie bestimmungsgemäß bei dieser verbleiben sollen. Demgemäß ist ein Archiv im engeren Sinne nicht etwas unverändert Bestehendes, vielmehr ist es erst im Laufe der Zeit als Niederschlag des staatlichen, kirchlichen, kaufmännischen und privaten Lebens geworden. Ein Archiv im engeren Sinne kann daher als etwas organisch entstandenes auch nicht, etwa mit Hilfe von Geldmitteln, künstlich und willkürlich geschaffen werden, so wie dies bei Bibliotheken und Museen der Fall ist. Die Vereinigung mehrerer Archivkörper in organisierten Anstalten nennt man Archive im weiteren Sinne. Archive im übertragenen Sinne aber heißen die Räume, in denen Archive im engeren und Archive im weiteren Sinne aufbewahrt und verwaltet werden. Jedes Archiv bzw. jeder Archivkörper ist aus zwei Wurzeln entstanden: die eine Wurzel ist der Auslauf und die zweite Wurzel ist der Einlauf einer Schreib- oder Beurkundungsstelle. Die aus der Kanzlei auslaufenden Urkunden gehen bestimmungsgemäß an den Empfänger und werden daher nicht in der Kanzlei bzw. im Archiv des Ausstellers, sondern im Archiv des Empfängers aufbewahrt, so daß man daher z. B. die Papsturkunden nicht im päpstlichen Archiv und die Königsurkunden nicht im königlichen Archiv, sondern im Archiv des betreffenden Empfängers antrifft ; wohl aber können gewisse mit der ausgelaufenen Urkunde im Zusammenhang stehende Schriftstücke urkundlichen Charakters in der Ausstellerkanzlei zurückbehalten werden, so z. B. schriftliche Vorverhandlungen, die zur Ausstellung einer Urkunde Ver­anlassung gaben, ferner Konzepte und Registereintragungen, eventuell auch ein zweites Original oder eine Abschrift der ausgestellten Urkunde usw. Die zweite Wurzel, aus der ein Archiv entsteht, ist der Einlauf; dieser setzt sich zusammen aus allen Urkunden, Briefen und sonstigen Schriftstücken, die von außen her in die Kanzlei kommen. Der Wert und die Bedeutung, welche, wie wir oben feststellen konnten, die einzelne Urkunde besitzt, kommt folgerichtig in noch viel höherem Ausmaße den organisch erwachsenen Urkundenbeständen und deren Aufbewahrungsstätten, den Archiven, zu. Enthält doch das Archiv für jede weltliche und kirchliche, öffentliche und private Institution, kurz für jede juristische und physische Persönlichkeit, die schriftlich festgelegten "Titel ihrer rechtlichen Existenz und in allen auftauchenden Rechtsfällen und Rechtsstreitig­keiten können die Rechtstitel und die Rechtsgrundlagen aus dem Archiv vorgewiesen werden. So hat X

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