Folia Theologica 17. (2006)

Roland Tamás: Das Schicksal des Reiches

250 R. TAMÁS Die goldene Mitte zwischen Heteronomie und Autonomie mar­kiert Tillich durch den Begriff der Theonomie. „Die Theonomie be­hauptet, dass das höhere Gesetz zur gleichen Zeit das innerste Ge­setz des Menschen selbst ist. Es wurzelt im göttlichen Grund, der des Menschen eigener Grund ist: das Lebensgesetz transzendiert den Menschen, obwohl es zur gleichen Zeit sein eigenes Gesetz ist."24 Auf die Kultur angewandt bedeutet das: „Eine theonome Kul­tur [...] drückt in ihren Schöpfungen etwas aus, das uns unbedingt angeht, einen transzendenten Sinn, nicht als etwas ihr Fremdes, sondern als ihren eigenen geistigen Grund."25 Nach dem Ersten Weltkrieg erwartete Tillich vom Religiösen So­zialismus, dass er ein theonomes Zeitalter herbeiführt, in dem die Spannung zwischen Religion und Kultur aufgehoben ist. Die Situa­tion nach dem Zweiten Weltkrieg machte ihm aber klar, dass das Proletariat nicht die Kraft hatte, die er ihm zuschrieb. Deshalb wird für ihn die Theonomie immer mehr zu einem Symbol und zum Be­griff des kritischen Maßstabes. Denn auch wenn die Dualität von Religion und Kultur „niemals in Zeit, Raum und Geschichte über­wunden werden kann, so ist es doch ein Unterschied, ob diese Dua­lität in eine nicht zu überbrückende Kluft vertieft wird, wie in den Perioden, in denen Heteronomie und Autonomie miteinander kämpften, oder ob die Dualität als etwas erkannt wird, das nicht sein sollte und das fragmentarisch, sozusagen durch Antizipation, in einer theonomen Periode überwunden werden kann."26 Es ist interessant, wenn wir den Tillich'schen Ansatz mit den er­sten Sätzen der dogmatischen Konstitution LG vergleichen. Dort heißt es: Die Kirche „war schon seit dem Anfang der Welt vorausbe­deutet; in der Geschichte des Volkes Israel und im Alten Bund wur­de sie auf wunderbare Weise vorbereitet, in den letzten Zeiten ge­stiftet, durch die Ausgießung des Heiligen Geistes offenbart, und am Ende der Weltzeiten wird sie in Herrlichkeit vollendet werden" (LG 2). Der Text legt offenbar großen Wert darauf, dass er die Kir­che nicht wie einen Fremdkörper in der menschlichen Geschichte darstellt, vielmehr ist die Kirche in die Geschichte eingebettet. Sie 24 Tillich: Religion (1967) 84. 25 Tillich: Religion (1967) 84. 26 Tillich: Religion (1967) 86f.

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