Folia Theologica 15. (2004)

Helmuth Pree: Das Gewissen vor dem Forum des Kirchenrechts

102 H. PREE II. Das Gewissensurteil in seinem Verhältnis zur rechtlichen Entscheidung 1. Gewissensurteil und Dispens Definitionsgemäß ist die Dispens die hoheitliche Befreiung von einer Gesetzesverpflichtung in einem Einzelfall. Dabei darf es sich um keine Vorschrift des ius divinum und auch nicht um Konstitutiv­elemente eines Rechtsaktes handeln und die Dispens muss dem geistlichen Wohl des Antragstellers dienen (cc. 85-87 CIC; cc. 1536-1538 CCEO). Besitzt nun die kirchliche Autorität die Voll­macht, von rechtlichen Verpflichtungen, die zugleich moralische Verbindlichkeiten im Gewissen darstellen, wie etwa im Falle einer Lebensbindung (Ehe, Rätestand, Zölibatspflicht) zu befreien? Eine bestehende moralische Bindung vermag durch einen Rechtsakt der Kirche nicht aufgelöst zu werden. Zwischen Mensch und Gott besteht kein Rec/ifsverhältnis, welches durch die Kirche aufgelöst werden könnte. Davon zu unterscheiden ist die Ände­rung der Situation, in der die Gewissenspflicht erfüllt werden müsste. Die Verhältnisse können sich so geändert haben, dass eine Gewissenspflicht nicht mehr in derselben Weise oder überhaupt nicht mehr moralisch erfüllbar ist. Hier kann ein Rechtsakt der Kir­che, z.B. eine Dispens, feststellen - mit der Wirkung der Anerken­nung des betreffenden Handelns vor der Rechtsgemeinschaft der Kirche, also öffentlich -, dass die moralischen Möglichkeiten der Verwirklichung der betreffenden Pflicht nicht mehr gegeben sind.14 13 13 Ein weiteres, konkreteres Anwendungskriterium betrifft die Frage, in wel­chem Forum eine Angelegenheit zu behandeln ist. Diesbezüglich gilt: Was öffentlich (rechtlich) bekannt bzw. beweisbar ist oder werden wird, ist im fo­rum externum zu regeln (vgl. cc. 1074; 1158 § 1; 1159 § 3; 1674,2°) - was demgegenüber geheim (rechtlich nicht beweisbar) ist und wahrscheinlich auch geheim bleiben wird, kann im forum internum behandelt werden (vgl. cc. 1048; 1079 § 3; 1080; 1158 § 2; 1159 § 2; 1340 § 2). Gemäß den Anforde­rungen des forum internum ist auch dann vorzugehen, wenn ein Gläubiger ei­nem Beichtvater seine Sünden bekennt, aber eine Lossprechung nicht erfolgt (vgl. c. 980). Die Gläubigen haben ein subjektives Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten zumindest im forum internum non sacramentale entschieden werden, wenn sie ein legitimes Interesse an der Geheimhaltung persönlicher Sachverhalte besitzen, z.B. weil mit der öffentlichen Behandlung die Gefahr einer (unrechtmäßigen und nicht erforderlichen) Rufschädigung verbunden wäre (vgl. cc. 220; 1048; 1340 § 2; 1352 § 2; 1361 § 3; 1717 § 2).

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