Folia Theologica 2. (1991)

Peter Henrici: Kann es heute eine christliche Kultur geben?

CHRISTLICHE KULTUR 75 Siewerth, Lotz, Rahner stellvertretend für viele andere stehen. Diese Namen weisen zugleich auf die zweite, inhaltliche Neuentdeckung der Neuscholastik dieses Jahrhunderts hin. Unter dem Einfluss eines gänzlich unscholastischen, aber zutiefst christlichen Philosophen, Maurice Blon­del, wurde nämlich das Verhältnis zwischen Natur und Übernatur neu bestimmt - so wie es Thomas von Aquin zusammen mit der ganzen Vätertheologie gesehen hatte. Die übernatürliche Gnadenordnung, der Ruf zur Teilnahme am innergöttlichen Leben tritt nicht als etwas Fremdes von aussen an eine bereits in sich abgeschlossene, selbstgenügsame Menschen­natur heran - so als würde diese gnadenhafte Berufung der menschlichen Eigenständigkeit Gewalt antun. Ganz im Gegenteil: erst dank dieser Be­rufung findet der Mensch ganz zu sich selbst, erst in ihr verwirklicht er sein volles Menschsein. Christsein erscheint so nicht als etwas Zusätzli­ches zum Menschsein, sondern als dessen echte und einzige Vollendung - dies war und ist der tragende Grundgedanke des Konzils und des nachkonziliären Lehramts. Als christliche Philosophen - als Philosophen, die auch in ihrem philoso­phischen Denken sich an ihrem Glauben ausrichten wollen - finden wir uns nun mit den beiden Errungenschaften der Neuscholastik, der Bedeu­tung der Vergangenheit und der Hinordnung der Natur auf die Gnade, mitten in eine durch und durch pluralistische Denklandschaft hineinge­stellt: in eine Situation, wo jeder Philoso-phierende denken kann, was er will; wo es zur Zeit überhaupt keine massgebende oder wegweisende grosse Philosophie gibt; wo viel- leicht das einzig „Zeitgemässe” die postmoderne Verzweiflung am philosophischen System ist. Wir können und wollen in dieser Denklandschaft keinen Dom und erst recht keine Burg „christliche Philosophie” errichten. Aber wir können und wollen, jeder an seinem Platz, verantwortlich philosophieren und können dabei aus unserer Überlieferung vielleicht einen Beitrag leisten, den andere so nicht leisten können. Aus dem erworbenen geschichtlichen Bewusstsein schöpfen wir den Mut, nicht nur auf die Philosophie des Altertums und des Mittelalters zu rekurrieren (der Aristotelismus ist zurZeit wieder gross „in Mode”, uns unsere Studenten in Rom studieren mit Begeisterung Thomas von Aquin); wir haben darüber hinaus den Mut, grosse Themen des christlichen Glau­bens, die Sünde, die Erbsünde, die Menschwerdung, das Kreuz, die Kir­che, zum Thema philosophischen Denkens zu machen - so wie es die grossen nachchristlichen Philosophen der Neuzeit getan haben.

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