Folia Theologica et Canonica 11. 33/25 (2022)

Sacra theologia

84 MARKUS ENDERS seiner vollkommenen Liebe zu seinen sich von ihm abgewandt habenden frei­en Geschöpfen sogar durch seine eigene (widerspruchsfrei denkbare und da­her grundsätzlich mögliche) Menschwerdung und vollkommene Selbsthinga­be in seinem gott-menschlichen Leben deren selbstverschuldetes Unglück der Gottverlassenheit stellvertretend auf sich nimmt, um - unter Wahrung seiner vollkommenen Gerechtigkeit - von sich aus ihre Gottesfeme überwinden und die durch ihre eigene Schuld Gottverlassenen doch noch zu sich führen zu können. Denn dieses über die Selbstentäußerung der Menschwerdung bis zur in vollkommener Selbstverleugnung vollzogenen freien Hingabe des eigenen Lebens für das Heil anderer gehende Maß an selbstloser Liebe ist schlechthin unübertrefflich. Abschließend können wir daher feststellen, dass die Wesensbestimmungen bzw. Eigenschaften Gottes nach christlichem Verständnis zugleich begriffliche Gehalte bzw. Implikate des ontologischen Gottesbegriffs sind, sodass eine prinzipielle, und zwar sowohl fundamentale als auch umfassende, inhaltliche Übereinstimmung zwischen dem ontologischen Gottesbegriff und dem christ­lichen Gottesverständnis besteht. Wir können und müssen daher Anselm von Canterbury Recht geben, wenn er am Anfang des zweiten Kapitels seines Proslogion den Gehalt seines „ontologischen Gottesbegriffs“ mit dem des Gottbegriffs des christlichen Glaubens identifiziert (ich zitiere und übersetze, Hervorhebung vom Vf.): „Also, Herr, der Du die Einsicht in den Glauben gibst, gib* mir, dass ich, soweit Du es für nützlich hälst, einsehe, dass Du bist, wie wir glauben, und dass Du das bist, was wir glauben. Und zwar glauben wir, dass Du etwas bist, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann.“ (Hervorhebung vom Verfasser)49 Zwar täuschte sich Anselm in seiner Überzeugung, mit seinem ontologischen Gottesbegriff auch ein rational zwingendes, beweiskräftiges Argument für die reale Existenz des Gottes des christlichen Glaubens gefunden zu haben, wie wir gesehen haben. Er täuschte sich aber nicht in seiner Überzeugung, dass das unum argumentum bzw. der ontologische Gottesbegriff in seinem Gehalt dem Gehalt des christlichen Gottesverständnisses vollkommen entspricht und daher den christlichen Gottesgedanken auf einen ihm angemessenen und zweifach, und zwar sowohl in inhaltlicher wie auch in formaler Hinsicht, nor­mativen Vemunftbegriff bringt. In dieser Entdeckung der zweifachen Norma­tivität des ontologischen Gottesbegriffs für die natürliche bzw. philosophische Gotteserkenntnis des Menschen und in seiner Einsicht in die grundsätzliche 49 Vgl. Prosl 2 ([II 101,3f.]: Ergo, Domine, qui das fidei intellectum, da mihi, ut quantum scis expedire intelligam, quia es sicut credimus, et hoc es quod credimus. Et quidem credimus te esse aliquid quo nihil maius cogitari possit.

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