Folia Theologica et Canonica 11. 33/25 (2022)
Sacra theologia
80 MARKUS ENDERS 4. Der ontologische Gottesbeweistyp in der Philosophie der Neuzeit Die frühneuzeitliche und neuzeitliche Geschichte des ontologischen Gottesbeweises (Descartes (1596-1650), Malebranche (1638—1715), Spinoza (1632-1677), Leibniz (1646-1716), Hegel) steht zwar wie schon dessen Grundlegung bei Anselm von Canterbury sowie dessen mittelalterliche Tradition44 in der Wirkungsgeschichte des platonisch-neuplatonischen Verständnisses von Sein als der Totalität aller (möglichen) Vollkommenheiten, zu denen auch die reale und die seinsnotwendige Existenz gehören. Aber zwischen Anselms eigenem Gottesbeweis-Argument und der neuzeitlichen Geschichte des ontologischen Gottesbeweis-Typs besteht vor allem folgende fundamentale Differenz: Anselms eigener ,ontologischer GottesbegrifT (,Q‘) wird von der neuzeitlichen Geschichte des ontologischen Gottesbeweis-Typs genau genommen nicht adäquat rezipiert.45 Vielmehr gehen die neuzeitlichen Vertreter des ontologischen Gottesbeweistyps bereits von einem Begriff Gottes als des vollkommenen Wesens aus. Damit jedoch fällt sowohl der negativ-theologische Gehalt von ,Q‘ als auch dessen formale Normativität für die neuzeitliche Geschichte des ontologischen Gottesbeweis-Typs schlicht aus. Denn diese reduziert den ontologischen Gottesbegriff Anselms auf dessen affirmativ-theologischen Gehalt seiner inhaltlichen Normativität, indem sie dessen noologischen Charakter, d. h. dessen begriffliche Bestimmung Gottes in Relation zum prinzipiellen Denkvermögen der endlichen Vernunft, unberücksichtigt lässt. Damit aber verliert der ,ontologische GottesbegrifT des neuzeitlichen Denkens, welcher Gott einfach als das schlechthin vollkommene Wesen versteht, gerade jene Bedeutungsdimension, die den ,ontologischen Gottesbegriff1 Anselms gegenüber allen anderen Gottesbegriffen des klassischen abendländischen Denkens auszeichnet, welche den formalen Charakter von Gegenstandsbestimmungen besitzen. Schließlich trifft Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises dessen ursprüngliche Form (,Q‘) nicht, weil sie reale Existenz nicht als eine Seinsvollkommenheit, sondern nur noch als die raum-zeitliche Position eines Gegenstandes versteht (vgl. I. Kant, KrV B 626, 627 [AA III 401]). Dennoch lässt sich der Beweisanspruch des ontologischen Gottesbeweises nicht einlösen, mit anderen Worten: Die reale Existenz eines unübertrefflichen Wesens lässt sich im Ausgang von einem rein apriorischen Begriff dieses Wesens nicht zwingend bzw. gültig ableiten; und zwar, wie der Verfasser andernorts aus44 Vgl. hierzu Daniels, A., Quellenbeiträge zur Geschichte des ontologischen Gottesbeweises im dreizehnten Jahrhundert. 45 Vgl. hierzu Hindrichs, G., Das Absolute und das Subjekt, 19-145.