Folia Theologica et Canonica 7. 29/21 (2018)
Sacra theologia
96 ATTILA PUSKÁS antwortet Balthasar mit dem geschichtlichen Beispiel christlicher Denker und nachchristlicher Philosophie. Einerseits zeigt die geschichtliche Erfahrung: „Nur sofern die grossen christlichen Denker Theologen sind, sind sie gelegentlich auch grosse Philosophen. Die christliche Entscheidung steht in ihnen an jener Stelle, an der die nichtchristlichen Denker sich zum Absoluten, zu ihrem Gott hin entscheiden. Christliche Philosophen werden, wenn sie aus letzter Leidenschaft Denker sind, von selber zu Theologen.”33 Clemens von Alexandrien, Origenes, Augustinus, Bonaventura, Thomas von Aquin, Pascal und die anderen großen christlichen Denker waren zugleich Philosophen und Theologen. In ihren Lebenswerken ist man Zeuge dessen, „je totaler und unteilbarer ihre Liebe zur Wahrheit ist, umso unbedingter ist bei ihnen der Bereich der Philosophie vom theologischen Eros beseelt.”34 Denselben Schluss bestätigt von der anderen Seite die Erfahrung mit nachchristlichem und außerkirchlichem philosophischem Denken: „es nur dort wahrhaft denkerische Leidenschaft entwickelt, wo das Christlich-Theologische säkularisiert erscheint in Sätzen angeblich reiner Philosophie” (z.B. Gnosis, deutscher Idealismus, Lebensphilosophien, Existenzphilosophie).35 Auf die Frage, „Was ist der Gegenstandsbereich der christlichen/katholischen Philosophie?“, lautet die kurze Antwort Balthasars, dass es das ausgezeichnete „Zwischenreich“ ist, das in der geschaffenen Welt theoretisch mit der natürlichen Vernunft erkennbar wäre, doch wegen der Verdunkelung der Vernunft durch die Sünde praktisch abhandenkommt oder nur als verstellte Erkenntnis erscheint. Mit dieser Auffassung rückt Balthasar in eine Nähe zur Bestimmung der christlichen Philosophie beim französischen Philosophen Etienne Gilson und besonders deren Interpretation durch Jean-Luc Marion. Gilsons Definition lautet: Ich nenne alle jene Philosophie christliche Philosophie, welche, wenngleich sie die zwei Ordnungen gar formal unterscheidet, „die Offenbarung als unentbehrliche Helferin der Vernuft” erfasst.36 Marion argumentiert in seinem Aufsatz Christian Philosophy: Hermeneutic or Heuristic? dafür, dass der Ausdruck „die Offenbarung als unentbehrliche Helferin der Vernuft” eher in heuristischem als hermeneutischem Sinne zu verstehen sei. Christus brachte Ordnung und Sichtweise der göttlichen Liebe mit und gerade diese Sichtweise ist es, mit Hilfe derer die philosophische Vernunft in der geschaffenen Welt neue Erscheinungen wahmehmen und erfinden kann. Der französische Philosoph meint, die heuristische Bestimmung ermöglicht einerseits folgende Antwort: aufgrund der Liebe den «weltlichen Wirklichkeiten» Bedeutung zu geben ist deswegen berechtigt, weil die Liebe neue Erscheinungen entdeckt und in die 33 KathPhil 20. 34 KathPhil 22. 35 KathPhil 21. 36 Gilson, É., Der Geist der mittelalterlichen Philosophie, Wien 1950. 40.