Folia Theologica et Canonica 4. 26/18 (2015)
SACRA THEOLOGIA - Krisztián Vincze, Die Realität und die würde des Leidens in der Philosophie von Simone Weil
DIE REALITÄT UND DIE WÜRDE DES LEIDENS... 111 chen Gottes ist. Das Sein ist real und vollkommen, wobei die Existenz nur verblassender Schatten ist, und die Realität kann ihre Gänze nur durch die Aufhebung des Schattens erreichen. Die Dekreation als transzendente Erfüllung der Schöpfung ist der Untergang in Gott, der dem zunichte gehenden Geschöpf die Totalität des Seins gibt. Diese Totalität ist einem entzogen, bis man bloß existiert.“29 Weil drückt dies in erschütternder Weise aus: Bis man jemand ist, behauptet man sein eigenes Ich, dadurch ist seine Existenz Hindernis zwischen Gott und seiner Schöpfung. Dieses Hindernis verschwindet, indem man seine Individualität, seine Persönlichkeit auslöscht, wenn man nicht mehr in Einzahl spricht.30 Der Begriff der Persönlichkeit wurde in der Modernität positiv bewertet, aber in der Sichtweise von Simone Weil ist er mit jenem Ich identisch, das direkt Egoismus, Ich-Zentrierung, für den Menschen oft typische Brutalität und Habgier suggeriert. Jeder Mensch bestimmt sich als unersetzbares Referenzzentrum. Als Referenzzentrum zu existieren bedeutet, dass der Mensch das Universum ausschließlich nur aufgrund der eigenen Wünsche, Vorstellungen und Ambitionen interpretiert, wobei alle andere Menschen erneut als Zentren des Universums existieren wollen. Ferner ist es auch eine Konsequenz des menschlichen sündigen Ichs, dass Dinge und Personen immer als Gegenstände des eigenen Verlangens oder umgekehrt als Hindernisse unseres Willens erscheinen. Unsertwegen existiert demnach Nichts an sich, alles, was es gibt, ist irreal, weil alles zum von unserem Ich interpretierten Ereignis wird. Im Interesse unserer Wohlfahrt lügt unser Ich oft oder unterstützt sich selbst durch Tröstungen und falsche Umwertungen. Wenn ein Mensch z.B. jemanden leidenschaftlich hasst, dann verzehrt sein inneres Feuer beinahe den Gehassten. Der Gehasste wird in diesem Fall zu Asche und insoweit seine äußere Form noch bewahrt wäre, würde sie bei der kleinsten Berührung zerfallen. In menschlicher Sicht sind sie substanzlose Schattenrisse, ohnmächtige und leblose Gegenstände. Die Autonomie des Menschen ist in ihrer äußersten Form nichts anderes als die Negation der Anderen, durch die der Mensch Gottes Stelle einzunehmen versucht. Das sündige Ich vergisst ausgerechnet das, dass alle Menschen das Recht haben, sich als Zentrum zu betrachten, und die Welt eigentlich der Ort der nebeneinander Existierenden ist. In jeder Sünde ist demnach das Wesentliche die Ablehnung der menschlichen Koexistenz. Für Weil ergibt sich daraus, dass das erste Gebot die Annahme der Koexistenz, die Annahme des Zusammenlebens ist, das zweite jedoch der Schutz oder die eventuell nötige Wiederherstellung dieser Annahme. Wenn man einen Unglücklichen trifft, der durch Leiden und Unglück zum passiven Objekt wurde, 29 Vető, ML, Simone, 32. 30 Vgl. Vető, M„ Simone, 33.