Folia Theologica et Canonica 1. 23/15 (2012)
IUS CANONICUM - Stephan Haering OSB, Das Verfahren zur Entlassung aus einem Ordensverband
DAS VERFAHREN ZUR ENTLASSUNG VON PROFESSMITGLIEDERN... 205 oder nicht. C. 1395 § 2 CIC handelt von weiteren Sexualstraftaten, unter anderem auch von jenen besonders qualifizierten, die unter Drohung oder Gewalt oder öffentlich oder mit Minderjährigen unter 16 Jahren begangen werden. Es verwundert ein wenig, dass in diesen qualifizierten Fällen dem Oberen ein Ermessensspielraum zugestanden wird, ob er zum Entlassungsverfahren schreiten will oder nicht. Denn die Entscheidung, ob am Ende eines solchen Verfahrens die Entlassung stehen wird oder nicht, ist ja nicht schon an dessen Beginn zu treffen. Das Verfahren sollte regelmäßig eine differenzierte Klärung der begangenen Taten erbringen und somit eine solide Basis für die anstehende Entscheidung über eine Entlassung schaffen. Es erscheint wenig angebracht, wenn ein Oberer ein Verfahren, das nicht mit der Entlassung endet, als eine Niederlage empfände. Im Zweifelsfall wäre also das Verfahren zu eröffnen und sorgfältig durchzuführen, ohne damit der abschließenden Entscheidung vorgreifen zu wollen.9 Die Tatbestände, bei deren Erfüllung die Entlassung aus dem Ordensverband obligatorisch ist, sind auch Straftatbestände. Der Gesetzgeber spricht an der betreffenden Stelle ausdrücklich von „ delicta“ und er verwendet auch den im Strafrecht bedeutsamen Begriff der Zurechenbarkeit (imputabilitas). C. 695 CIC scheint also auf den ersten Blick eine Spezialnorm gegenüber dem allgemeinen kanonischen Strafrecht zu sein, die bestimmte Straftaten und als deren Folge die (strafweise) Entlassung aus dem Verband nennt. Gegen die Qualifizierung der Entlassung als kanonische Strafe spricht jedoch die Abweichung von dem allgemeinen strafrechtlichen Grundsatz, dass eine Strafe für immer nur durch richterliches Urteil verhängt werden kann (c. 1342 § 2 CIC). Vor diesem Hintergrund muss man die Entlassung doch als eine außergerichtliche Disziplinar- maßnahme einordnen und nicht als kanonische Strafe qualifizieren. Das Entlassungsverfahren ist ein Verwaltungsverfahren ohne Strafcharakter im engeren Sinne.10 9 In diesem Zusammenhang ist ein Hinweis auf das Motu Proprio Sacramentorum sanctitatis tutela von Interesse, das Papst Johannes Paul II. am 30. April 2001 erlassen hat:AAS 93 (2001) 737-739; mit dt. Übers, auch: Archiv ftir katholisches Kirchenrecht 170 (2001) 144-147. Das Motu Proprio und der damit verbundene Brief der Kongregation für die Glaubenslehre vom 18. Mai 2001: AAS 93 (2001) 785-788; mit dt. Übers, auch: Archiv für katholisches Kirchenrecht 170 (2001) 147-152; setzten das gesetzliche Schutzalter bei sexuellem Missbrauch in Abweichung von c. 1395 § 2 CIC vom 16. auf das 18. Lebensjahr hinauf. Allerdings handelt dieses päpstliche Gesetz nur vom Missbrauch durch Kleriker, so dass das Schutzalter für Geschädigte im Hinblick auf das Verfahren zur Entlassung aus dem Lebensverband weiterhin bei 16 Jahren liegt. Bei der Neufassung der Normen über die schwererwiegenden Straftaten im Jahr 2010 wurde diesbezüglich keine Neuerung eingeführt; vgl. Congregatio pro Doctrina Fidei, Normae de gravioribus delictis vom 21. Mai 2010: AAS 102 (2010) 419-430; dt.: Archiv für katholisches Kirchenrecht 179 (2010) 169-179. 10 Vgl. Haering, S., Verwaltungsverfahren. II. Kath., in Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, 3. Paderborn 2004. 829 f.