Folia Canonica 5. (2002)

STUDIES - Spyros N. Troianos: Die Entwicklung und der aktuelle Stand des kanonischen Rechts und der Kanonistik in der griechischen Orthodoxie

20 SPYROS N. TROIANOS sehen Rechts vorgesehen. Vermutlich wollte man sowohl an der Theologischen als auch an der Juristischen Fakultät Lehrstühle, die das Rechtsleben der Kirche zum Gegenstand hatten, vermeiden, solange die Auseinandersetzungen dauer­ten, welche die einseitige - d.h. ohne die Einwilligung des Patriarchats von Kon­stantinopel - Proklamation der Autokephalie der griechischen Kirche hervorge­rufen hatte. Bis zu der Gründung des Lehrstuhls für Kirchenrecht und der Ernennung des ersten Professors hatte sich als einziger Universitätsangehöriger Pavlos Kalli- gas, damals noch Privatdozent für internationales Privatrecht und Völkerrecht, mit Fragen dieses Faches befaßt. Er publizierte nämlich in den Jahren 1840 -1841 unter anderem drei kleine Abhandlungen auf Griechisch über das Verhält­nis der Ostkirche zum weltlichen Recht, über die Kanonessammlungen der Ost­kirche und über die höheren Grade des geistlichen Standes. Zum Unglück - aus der Perspektive des Kirchenrechts - war Michael Potlis auch ein aktiver Politiker. Schon wenige Tage nach seiner Berufung übernahm er das Justizministerium und später auch das Kultusministerium sowie das Mini­sterium des königlichen Hauses, so daß er von seiner Anstellung im Jahre 1855 bis zu seiner aus politischen Gründen erfolgten Entlassung am 23. Oktober 1862 seinen Lehrverpflichtungen nur wenig Zeit widmete. Von seinem Unterricht ist nur seine Antrittsvorlesung in erweiterter Form gedruckt überliefert. Von den Begriffen der Kirche einerseits und des Rechts andererseits ausge­hend, beschreibt Potlis auf den ersten Seiten dieses Textes den Gegenstand des Kirchenrechts, wobei er sämtliche von staatlichen Organen stammende Rechts­quellen ausklammert, etwa alle die Kirche betreffenden Staatsgesetze. Kirchen­recht und kanonisches Recht sind demnach für ihn quellenmäßig im Grunde ge­nommen identisch. Ferner meint er, daß die Untersuchung der Beziehungen zwi­schen Staat und Kirche einen Teil des Staatsrechts darstelle. Anschließend be­handelt Potlis die geschichtliche Entwicklung seines Faches. Außer der Antritts­vorlesung soll er auch ein dünnes Vorlesungsmanuskript in lithographierter Form gegeben haben, von dem aber jede Spur fehlt. Obwohl Potlis wegen seiner politischen Verpflichtungen auf das Abfassen eines systematischen Werkes verzichten mußte, ist er unter den Forschem des östlichen Kirchenrechts weltweit bekannt, weil er zwischen 1852 und 1859 in Zusammenarbeit mit seinem Fakultätskollegen und Freund Georg Rallis die große sechsbändige Edition der kanonischen Quellen der Ostkirche herausgab - ein Werk, das bis heute noch zum großen Teil unersetzt ist. Potlis’ Entlassung aus dem Universitätsdienst bedeutete auch das Ende sei­ner wissenschaftlichen Tätigkeit, denn er verließ Griechenland und zog sich nach Wien zurück, wo er ein Jahr später im Alter von 51 Jahren starb. Sechs Jahre lang blieb der Lehrstuhl für Kirchenrecht unbesetzt; erst am 18. Juli 1868 wurde ein Lehrauftrag an Konstantin Phrearitis erteilt, der bis dahin

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