Folia Canonica 3. (2000)
STUDIES - Peter Landau: Die Canones Apostolorum im Abendländischen Kirchenrecht, insbesondere bei Gratian
DIE CANONES APOSTOLORUM IM ABENDLÄNDISCHEN KIRCHENRECHT 35 Als Ergebnis dieser Quellenuntersuchung läßt sich festhalten, dass Gratian sich intensiv mit der Frage der Rechtsgeltung der Canones apostolorum auseinandersetzte und sich für seine Argumentation ausschließlich auf Ivo von Chartres stützte. Da man annehmen muß, dass er sein Lehrbuch relativ systematisch plante, wurde die Entscheidung für die Berücksichtigung der apostolischen Kanones wohl schon frühzeitig in der Planungsphase des Dekrets getroffen. Die ausschließliche Berücksichtigung ivonischer Belege in dieser Distinctio liefert daher ein Argument für die von mir bereits früher geäußerte Vermutung, dass die Bekanntschaft mit Ivos Sammlungen wohl am Anfang der Konzeption des Dekrets stand.44 Aufgrund der Entdeckung zweier Redaktionen des gratiani- schen Dekrets durch Anders Winroth müssten einige Hypothesen in meiner Studie von 1994 modifiziert werden. Meine Hauptthese einer stufenweisen Benutzung der Kanonessammlungen durch Gratian wurde durch Winroths Entdeckung bestätigt. Nach der Festlegung auf die Berücksichtigung der Apostelkanones hat Gratian in der Tat Gebrauch von dieser Quelle gemacht, die er für 17 Kapitel verwandte, wobei er c.42 und c.43 der Kanones in einem Kapitel zusammenfasste (D.35,c.l) und c.41 der Kanones auf zwei Kapitel verteilte (C.12,q.l,c.22 und 24).45 Ganz überwiegend sind diese Kapitel bereits in der ersten Redaktion des Dekrets enthalten; zwei Kanones wurden für den Teil “De consecratione” verwandt und damit erst für die zweite Redaktion.46 Nur in einem einzigen Fall wurde in den ersten beiden Teilen des Dekrets ein apostolischer Kanon nachträglich in der zweiten Redaktion in das Dekret eingefügt.47 Gratian folgte also von Anfang an konsequent der Maxime, die Kanones als authentischen Rechtsstoff der Kirche zu betrachten. Wenn man erwägt, dass immerhin 33 apostolische Kanones von Gratian nicht berücksichtigt wurden, könnte man daraus den Schluss ziehen, dass der Magister eine sehr überlegte Auswahl aus den Kanones getroffen und etwa alle Kanones ausgelassen habe, die Benediktionen am Altar betrafen (c.4-5) oder die sich auf die Laien bezogen (c. 10.24,46-49). Das würde aber voraussetzen, dass Gratian einen vollständigen Text der Canones apostolorum, etwa in einer Pseudoisidor-Handschrift, bei der Redaktion des Dekrets als Vorlage benutzt und exzerpiert habe. Es ist jedoch zu vermuten, dass Gratian bei den Kanones D.15, C.2; D.16, c.6; D.16, c.5; D.16, c.7-cf. auch meine Arbeit ‘Überlieferung’ (Anm. 22), 219. 44Cf. MEINE Arbeit ‘Gratians Arbeitsplan’ in luri Canonico Promovendo. Festschift H. Schmitz Regensburg 1994, 691-707, hier 706 f. 45 Cf. die Tabelle bei E. Friedberg, Corpus Iuris Canonici I, Prolegomena, col. xix. 46 D.l, C.62 de cons.; D.4, c.79 de cons. 47D.88, C.3. Zu den beiden Redaktionen cf. R. Weigand, Chancen und Probleme einer baldigen kritischen Edition der ersten Redaktion des Dekrets Gratians, in Bulletin of Medieval Canon Law N.S. 22 (1998) 53-75.