Kolba H. Judit: Liturgische Goldschmiedearbeiten im Ungarischen Nationalmuseum. 14.-17. Jahrhundert. (Catalogi Musei Nationalis Hungarici. Series Mediaevalis et Moderna 1; Budapest, 2004)
DIE LITURGIE UND IHRE OBJEKTE
als Mensch gestorben war - doch war sein Tod gleichzeitig die Erfüllung des göttlichen Willens. Dass er angenagelt wurde, bezeugt auch die Szene mit Thomas nach der Auferstehung: der zweifelnde Jünger wollte die Nägelmale mit den Fingern berühren (Joh 20,25). Die von Christus begründete Religion, das Christentum, erhielt ihren Namen von Christus. Der Christianus ist ein Nachfolger Christi. Das höchste Symbol der neuen, von Jesus gegründeten Religion, des Christentums, ist schon seit zwei Jahrtausenden das Kreuz. Mit einem Kreuz hat man bereits in den Zeiten des Urchristentums die Altäre, Wände und Gräber versehen. Seine Bedeutung wuchs vom 4. Jh. an, seit der Vision Konstantins des Großen: Er erblickte am Himmel ein Kreuz und hörte eine Stimme: „in diesem Zeichen wirst du siegen", und das Kreuz wurde später fast zu einem Staatszeichen. Um das erste Jahrtausend wurden immer mehr Kreuze verschiedener Form und Verzierung verfertigt. Sie wurden auf die Altäre und Kirchentürme gesetzt, sie befanden sich unter den Verzierungen profaner Embleme und Wappenschilde. Im Laufe der Jahrhunderte bildeten sich vielerlei Varianten heraus. Die bekannteste von ihnen ist das lateinische Kreuz, jenes von Jesus: der untere Schaft des vertikalen Balkens ist länger, die Balken des griechischen Kreuzes sind gleich lang. Die Balken des Andreaskreuzes kreuzen sich schräg, ein Hinweis auf die Umstände der Kreuzigung des St. Andreas. Das Gabelkreuz dürfte ursprünglich eim Symbol des Lebensbaumes gewesen sein. Das Doppelkreuz ist das Zeichen des Patriarchen oder des Erzbischofs, in Ungarn wird es seit dem 11. Jh. das Apostelkreuz genannt. Die Päpste verwenden ein dreifaches Kreuz, das russisch-orthodoxe Kreuz hat unterhalb des Doppelkreuzes noch einen kürzeren schrägen Balken. Bekannt sind noch auf Grund ihrer merkwürdigen Form das Jerusalem- und das Malteserkreuz (Liturgikus lexikon 2001, 99-100). In Ungarn wurde im Allgemeinen die Form des lateinischen Kreuzes verwendet, und im Laufe der Jahrhunderte gab es unzählige Varianten von ihm. In der Romanik wurde das Kreuz aus einer dickeren Platte geformt. Da zu dieser Zeit die meisten Kirchen nur über ein einziges Kreuz verfügten, wurde das Kreuz unten mit einem längeren Dorn versehen. Auf diese Weise konnte dasselbe Kreuz in einem Fuß auf den Altar gestellt oder an einem langen Schaft befestigt bei Prozessionen vorangetragen werden. Im Katalog von Zsuzsa Lovag sind die Kreuze der Periode eingehend beschrieben worden (LOVAG 1999, 32-42, Nr. 42-46). Eine individuelle Form hat das einzige Kreuzes aus dem 14. Jh., die Kopie des Doppelkreuzes König Ludwigs des Großen. Es ist zwar nur eine Kopie, doch ist das authentische Original in Wien vorhanden, und da es ein sehr bedeutendes Stück der Kunst der Zeit Ludwigs des Großen ist, meinte ich, daß selbst die Kopie die Werte des Originals würdig veranschaulicht und im Katalog nicht weggelassen werden kann. Der auf Löwenfüßen stehende Vierpaßfuß, der hohe, mit geschlossenen Kapellennischen verzierte Schaft, die mit Kristallplatten bedeckten Querbalken hinterlassen einen unvergleichlichen Eindruck. Auf den Fußplatten befinden sich schöne emaillierte Wappen (Nr. 102). Die Änderungen der liturgischen Vorschriften führten in der Mitte des 15. Jh. dazu, dass bereits spezielle Kreuze unterschiedlicher Funktion hergestellt wurden: Altarkreuze, die auf dem Altar oder in dessen Nähe standen (BRAUN 1932,466), und Prozessionskreuze (Nr. 103-104), die beim Einzug in die Kirche zur Hochmesse und bei Prozessionen vorangetragen wurden. Das Altarkreuz bekam einen ebensolchen Fuß wie Kelch und Ziborium und einen ähnlichen wie die Monstranz: ein ovaler, doch durch Pässe gegliederter Fuß, darüber Schaftringe und zwischen ihnen der dem des Kelches ähnelnde Nodus. Der Nodus konnte einen dekorativen Kapellenkranz (Nr. 106), eine abgeflachte, segmentierte (Nr. 105), eine etwas fülligere Renaissance-Form mit Blasen (Nr. 111) bzw. Blättern oder eine noch flachere Kugelform aufweisen (Nr. 108, 110). Der Oberteil der Kreuze ist in Größe und Form fast identisch. Kreuzbalken und Füße haben etwa dieselben Maße, durchschnittlich 15 cm: sie sind doppelwandig, mit schön, aber nicht gleich verzierter Vorder- und Rückseite (H. KOLBA 1980b, 240-257). Auf der Vorderseite ist immer ein Korpus angenagelt. Die Querbalken enden kleeblattförmig (Nr. 105-116) und bieten damit weiteren Raum für Verzierungen. Beide Seiten sind seitlich durch durchbrochene oder gravierte Platten miteinander verbunden. Lange nannte man auch diese wegen ihres leeren Innenraums Reliquiarkreuze, wie die Nachfolger der romanischen Pektoralkreuze. Heute können wir mit Sicherheit ausschließen, dass die Kreuze des 15. Jh. Reliquien bargen, da sich in keinem von ihnen zum Aufbewahren von Reliquien geeignete Kapseln oder Döschen befinden. Der Rand der Kreuzplatten wurde mit glattem oder tordiertem Draht gerahmt, am Kreuzungspunkt der Balken zieren manchmal Strahlenkränze die Umgebung des Korpus (Nr. III). Am Fuß der Kreuze, über dem Schaft, stehen auf gewölbten kleinen Sockeln gegossene Statuetten von Maria und St. Johannes (Nr. 105. 111); diese finden sich auch noch an einem Kreuz aus dem 17. Jh. (Nr. 114). Hierher gehören die Fragmente von zwei Kreuzen, die in Form und Größe identisch sind und zu Pektoralkreuzen umgearbeitet wurden (Nr. 107, 109). Beide waren Standkreuze, deren Fuß abgebrochen war. Sie haben ebensolche