Nagy Ildikó szerk.: A Magyar Nemzeti Galéria Évkönyve 1980-1988 (MNG Budapest, 1989)
R. Várkonyi, Ágnes: VARIATIONEN ÜBER DIE UNGARISCHE GESCHICHTE: DIE BILDER DER AUSSTELLUNG. UNGAR 1526-1790
des Kriegsrates, des Statthalterrates, Staatsanwälte, Personalis, Hofräte. Es waren Fürsten und Herzöge unter ihnen, viele Burgkommandanten, einige Diplomaten, Bergwerksbesitzer, Eisenwarenhändler, Minister, Dichter, Schriftsteller, Erzieher. . . Die Last ihrer sich aufs ganze Land erstreckenden politischen Würde drückt alle Familienangehörigen. Die Frau: junge Gemahlin des Reichsfürsten, Witwe eines Burgkommandanten, Gattin eines rebellierenden aristokratischen Dichters. Die Kinder sind auserwählt für hohe kirchliche Würden, politische Heiraten, Besetzung von Obergespansposten, und dabei erst acht, zehn Jahre alt. Der Schauplatz ihres Lebens ist die ungarische Geschichte: Schlachtfelder, Landtage, Zeltlager, die Wiener Burg, ausländische Universitäten, glanzvolle Höfe von Monarchen und eingeschneite Adelssitze, ferne Herrenhäuser, stille Gefängnisse. Da waren solche, deren Leben von einem türkischen Säbel ausgelöscht wurde, und andere, auf die das Beil des Henkers niederfuhr. Manche fuhren, mit höchsten Auszeichnungen dekoriert, stolz ins Grab, und andere wurden mit heißem Pech Übergossen. In Ketten geschmiedet saßen sie in der Jedikula in Konstantinopel, in Wiener Neustadt, in Kufstein. In ihrer festlichen Tracht erhöhten sie den Glanz von Königskrönungen in Preßburg und Kaiserwahlen in Regensburg. Sie bewegten sich viel in Ratssälen, bei Geheimtreffen, in Freimaurerlogen, Ballsälen und Gartenfeiern. Sie tauchten an allen Ecken Europas auf: in Krakau und Rom, auf der Halbinsel Krim und in London, in Paris, Göttingen, Basel und in St. Petersburg. Ihre Bildung bewegte sich in den Spuren universeller geistiger Strömungen, sie umfaßte die Zeit von Humanismus, Reformation, Gegenreformation, die Ideen von Toleranz, Patriotismus, Rationalismus und Aufklärung. Wie unter den historischen Persönlichkeiten aller Länder der Welt gab es auch hier reichlich viele, die ihrer Zeit weit voraus waren. Andere hingegen brachten die Zeit zum Stillstand. Die Bedeutung ihrer eigenen Persönlichkeit haben sie in jeder Epoche durchaus formuliert, dennoch haben sie, nach dem Untergang des Feudalismus, im 19. Jahrhundert, mit all ihren reichen Archiven die Frage unbeantwortet auf den Tisch der bürgerlichen Welt gelegt, was sie denn in Wirklichkeit im Laufe der ungarischen Geschichte verkörperten. Ihre Familiengeschichte wurde im Jahrzehnt nach dem Freiheitskampf und der Revolution von 1848/49 von dem jungen Historiker, Iván Nagy in zwölf Bänden veröffentlicht (1857—1868)." Die Frage ihrer historischen Bedeutung steht seither, seit über einem Jahrhundert, im Scheinwerferlicht von spektakulären Debatten, Ehrungen, und Untersuchungen. Zsigmond Baron Kemény, ein Bahnbrecher der realistischen Geschichtsbetrachtung und bekannter Politiker aus der Zeit des österreichisch-ungarischen Ausgleichs (1867), konnte selbst nicht entscheiden, wer sie gewesen waren. In seiner Jugend wähnte der Nachkomme der Familie des Fürsten von Siebenbürgen, János Kemény noch, seine Vorfahren hätten sich in Machtkämpfe verstrickt und sie seien für die Verspätung der gesellschaftlichen Entwicklung Ungarns, für die Mängel der bürgerlichen Entwicklung, für die Niederlage in der Schlacht bei Mohács (1526), ja letztlich für alles verantwortlich. Später hielt er fest, es sei bei allen Einwendungen doch dem Stand des Hochadels zu verdanken, daß Ungarns staatliche Einheit erhalten geblieben sei, ,,denn selbst bei ihrem Machthunger vermochten sie Maß zu halten, in ihren Sehnsüchten wie in ihrer Untreue". 3 Die Vertreter der revolutionären Romantik prüften mit scharfer Kritik die Rolle der Adelsfamilien bei den Kriegen um die Unabhängigkeit des Landes und bei der Umgestaltung des Feudalismus. Bereits der Bahnbrecher der positivistischen Geschichtsschreibung, László Szalay (1813—1864), wies nach, daß sie nie eine geschlossene Kaste gebildet haben und daß ihre jahrhundertelange Überlebensfähigkeit viele verwandte Züge mit den Adligen der benachbarten Länder, mit den polnischen, österreichischen, deutschen, tschechischen und kroatischen Aristokraten zeigt. Der einflußreichste Vertreter von Historismus und Postromantik, Kálmán Thaly (1839—1909), schrieb über sie im Stil der Apotheose oder der Verdammung je nachdem, ob sie gegen Habsburg gekämpft hatten und also ,,Kurutzen" gewesen sind oder ob sie zum monarchentreuen Lager der ,,Labantzen" gehörten. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wurden sie in den Zusammenhängen von Wirtschaft, Staatssystem und gesellschaftlicher Entwicklung untersucht. Sándor Takáts (1860—1932) und Sándor Domanovszky (1877—1955) entdeckten ihre Bedeutung im Hinblick auf die Organisierung der Wirtschaft und die Entwicklung der Kultur. Gyula Szekfû (1883—1955) stellte fest, daß sie auch finanziell viel für die Verteidigung des Landes geopfert hatten, nichtsdestoweniger aber gegenüber dem HabsburgerAbsolutismus und danach dem aufgeklärten Absolutismus bis zum Schluß die Ansprüche der ungarischen Ständeordnung zur Geltung brachten. Der Begründer der ungarischen Agrargeschichte István Szabó (1898—1969) umriß die Geschichte der Leibeigenschaft auf ihrem durch drei Jahrhunderte der frühen Neuzeit führenden Weg. 4 Und István Hajnal (1892—1956) regte bei der Untersuchung ihrer historischen Bedeutung eine neue Forschungsrichtung an. Der Pionier der modernen ungarischen Soziographie analysierte die Reformpolitik des 17. Jahrhunderts und stellte fest: Hochadel und Adel waren inmitten der Zwistigkeiten ,, gewiß stärker von der Sorge um die Erhaltung der Nation, von der schmerzlichen Hoffnung auf Erneuerung erfüllt, als dies dem auf uns überkommenen Quellenmaterial entnommen werden kann". 5 Dieser kurze Überblick sollte dabei behilflich sein, das Ensemble der ,,Ahnengalerien des Hochadels und Familienporträts" im Prozeß der ungarischen Geschichte zu betrachten, damit offensichtlich wird, daß sich das Leben der Menschen durch die Antworten, die sie auf die Herausforderungen und Anforderungen der Zeit gegeben haben, in die Geschichte eingefügt hat. Und um die Zeit tiefer kennenzulernen muß man nicht nur wissen, was geschehen ist, sondern wie das Geschehene von den Menschen erlebt wurde. Wie sie ihre Bewertung der Lage herausbildeten, wie sie im System ihrer Assoziationen die sie umgebende Welt, das Leben, die Politik, den Tod aufgefaßt haben. Wir müssen die künstlerischen Strukturen kennen, in denen sie ihre Zeit erlebten, wir müssen die Koppelung von Visuellem und Gedanklichem, ihre Zukunftsbilder, ihre Begriffe von Europa, Ungarn und von der Zeit kennen. «S