Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 52. (2007)

SCHARR, Kurt: Österreichische Archivalien in der Ukraine (Galizien und der Bukowina)

Rezensionen Karl der Große und Harun al-Raschid zur späteren Erfindung des Mittelalters. Eröffnet wird diese These, die der Autor jüngst auch in Buchform vertreten hat, mit knappen Ausführungen zum Kalenderwesen, um sie dann mit einer systematischeren Sichtung und Bewertung der wenigen städtischen Funde in Wien, Linz, Salzburg, Wels, Regensburg, Augsburg, Aachen, Paderborn, Katalonien, Ampuria und einigen Hinweisen zur weltweiten Dimension des „dark-age“- Phänomens zu begründen. Wie das urkundlich, chronikalisch und kalendarisch überlieferte Frühmittelalter aber möglich wurde, mit der sich die Welt des Mittelalters laut Autor um 300 Jahre fiktiver Geschichte zu umecht bereichert habe, bleibt bei vagen Vermutungen zu ETngenauigkeit, Fälschung, Fiktion und Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung unklar. Hier liegt auch die Schwäche der These, da der Fiktionsgehalt von Fälschungen und ihre Genealogie (wer, was, wann, von wem übernommen und tradiert hat) grobe Vermutung bleibt, zumal Fälscher zwar Unwissenheit nutzen, aber den eigenen Konstruktionsanteil möglichst gering halten müssen, zumal Überlieferungen kollektiv geteilt werden und Kalender über kulturelle Grenzen hinweg verschränkt sind und hohen Konsistenzforderungen unterliegen. 300 Jahre können nicht auf einmal erfunden und den in Sachen Zeitbeobachtung kompetenten und sensiblen Zeitgenossen aufdoktriniert werden. Auch verkennt Illig, dass ein einziger Fund aus dem besagten Zeitraum genügt, um die These zu widerlegen bzw. zur Revision zu zwingen. Ebenso blieben die wesentlichen Fundorte im Mittelmeerraum ausgespart und das kontinuierlichste Gedächtnis, das vatikanische, unbefragt. Darüber hinaus wurde nichts zu Zeitverständnis und -messung gesagt, und was über Zeit und Narration hätte gesagt werden können, blieb aus. Doch ist dem Autor als Verdienst, mithin den Herausgebern, zuzurechnen, die bisher nahezu routiniert hingenommene Fundarmut mit einer erfrischenden These irritiert und die Dringlichkeit einer systematischen Überprüfung der Beziehung von archäologischen Funden und schriftlicher Überlieferung deutlich gemacht zu haben. Dem thematisch exponierten Aufsatz Illigs folgt der gediegene aber auch konventionellere Artikel von Peter Dinzelbacher, der im Sinne von „nova et vetera“ das Thema urbanes Zeitverständnis im Mittelalter in den Mittelpunkt stellt und diesem sich mentalitätsgeschichtlich nähert. Erkenntnistheoretisch begründet beginnt der Artikel in der Gegenwart, die zwischen einer physikalisch­chronometrischen und einer individuell empfundenen Zeit unterscheide: Einesteils sei unser Alltag durch „elektronische Terminkalender“ und Quarzuhren präzise strukturiert, andemteils herrsche im individuellen Empfinden durch die Vielfalt an Erlebensmöglichkeiten und den Zwang zur Selektion „Zeitknappheit“. Mit dem so justierten Blick stellt der Autor die Zeitkonzeptionen des Mittelalters und ihre soziale Eingebundenheit bis zur Neuzeit dar, wobei der Stadtbezug locker bleibt. Aufmerksamkeit findet der Zwiespalt zwischen einem konkreten Zeitempfinden und einer vom Alltag abgehobenen Zeittheologie bzw. -philosophie der Scholastik. Während „Zeitknappheit“ primär unter dem göttlichen Endgericht betrachtet 356

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