Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 52. (2007)

TISCHER, Anuschka: Die Bellegarde-Akten im Historischen Staatsarchiv Lettlands in Riga: Quellen zur transnationalen Geschichte einer savoyisch-österreichischen Adelsfamilie und ihres Umfelds vom 15. bis zum 20. Jahrhundert

Vier Akten enthalten Familientestamente aus dem 16. Jahrhundert.20 Die Bellegarde begannen offensichtlich nicht erst mit dem Prozess von 1764/65, sich für die identitätsstiftenden Dokumente ihrer Dynastie zu interessieren und diese zu archivieren, doch gab der Prozess den Anstoß zur Systematisierung und genealogischen Aufarbeitung des gesammelten Materials. Das einmal erwachte familienhistorische Interesse blieb bestehen, und etwa im späten 19. Jahrhundert wurde die Genealogie der Familie nochmals auf den neuesten Stand gebracht mit einem Verzeichnis der zu den einzelnen Personen zu jenem Zeitpunkt jeweils noch vorhandenen Archivalien.21 Soweit heute noch vorhanden finden sich hier zum Beispiel mit den Ehedokumenten und Familientestamenten Quellen auch zur Sozial- und Geschlechtergeschichte. Aufgrund der engen Bindung der Bellegarde an das Haus Savoyen spiegeln sich in ihrer Karriere auch manche der auswärtigen Beziehungen Savoyens. Savoyen war Reichslehen, und die Bellegarde bemühten sich um ihre persönliche Rückkoppelung an das Reich und die Habsburger seit der Verleihung des Reichsadels durch Karl V. Savoyen war oftmals ein Spielball zwischen den Interessen der Großmächte und wurde vom 16. bis zum 18. Jahrhundert mehrfach von französischen Truppen besetzt. Für die Bellegarde hatte, wie für die savoyische Dynastie selbst, die Betonung der Reichszugehörigkeit eine Schutzfunktion. Für die Bellegarde wurde das Reich aber immer mehr auch zur Heimat, denn schon im frühen 18. Jahrhundert etablierte sich ein Zweig der Familie durch Heirat außerhalb Savoyens und trat in den kursächsischen, dann in den kaiserlichen Dienst.22 Im Verlauf der französischen Besetzung Savoyens nach der Französischen Revolution verließ die Familie Savoyen schließlich ganz. Die Bindungen an die Jahrhunderte lange Heimat Savoyen war für die Bellegarde längst gelockert, alternative Bindungen an das Reich und die habsburgische Dynastie entstanden, die ihren Ursprung schon in der Erhebung durch Karl V. hatten. Als eine der wenigen der zahlreichen vertriebenen savoyischen Familien kehrten die Bellegarde deshalb nach der Befreiung Savoyens nicht zurück23, und als Ergebnis einer eher langfristigen Familienpolitik waren die Bellegarde im 19. und 20. Jahrhundert schließlich keine italienische oder französische, sondern eine österreichische Familie. Andererseits war die savoyische Politik über die Jahrhunderte vielfach mit verschiedenen Mächten zum Teil auch gegen den Kaiser und die Habsburger verflochten, was sich am deutlichsten manifestiert in den verschiedenen Ehen der Herzoge mit französischen Prinzessinnen, von denen Yolande von Valois 1472- 1478 und Christine von Frankreich 1637-1648 für ihre minderjährigen Söhne Die Bellegarde-Akten im Historischen Staatsarchiv Lettlands in Riga 20 LVVA 1100, ap. 14, lieta 108-111. 21 LVVA 1100, ap. 14, lieta 116. 22 Siehe dazu LVVA 1 100, ap. 14, lieta 36 sowie lieta 48 fol. 4.. 23 Vgl. dazu auch André Palluel-Guillard (u. a ), La Savoie de la Révolution à nos jours, XIXe-XXe siècle, Rennes 1986, S. 41. 323

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