Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 51. (2004)

GOLLER, Peter: Österreichische Staatsrechtswissenschaft um 1900. Aus Briefen Edmund Bernatziks an Georg Jellinek (1891–1903)

Peter Goller durch Ablegung seines eigentlichen Familiennamens Tänzerles der völligen antisemitischen Blockierung einer Laufbahn im Staatsdienst zu entgehen versuchte.62 Gut verstand sich Bernatzik mit dem Nationalökonomen Eugen Philippovich ( 1858— 1917). Die beiden Wiener hatten sich in ihrer gemeinsamen Basler und Freiburger Zeit (1891-1892) ständig persönlich getroffen. Nach beider Rückkehr nach Wien (1893/94) hielt der freundschaftliche Kontakt zum als „Kathedersozialist“ angeschriebenen Philippovich an: Mit Phil[ippovich] verkehre ich recht viel, am meisten. Er treibt stark Politik, ist ein vorzüglicher und schlagfertiger Redner, dürfte wol [in] die Versenkung des Parlaments verschwinden. Leider wohnt er so weit u. hat eine Frau, mit der man nichts anfangen kann.63 Von kollegialer Freundschaft war das Verhältnis zum Zivilrechtler Adolf Exner (1841-1894) geprägt. Exner, der mit Unger als Führer der österreichischen Zivilistik angesehen wurde, half mit, Bernatziks Rückkehr an die Universität Wien einzufädeln. Jellinek selbst widmete Exner 1895 einen Nachruf.64 Exners im Herbst 1891 gehaltene Wiener Rektoratsrede „Über die politische Bildung“ war aber auf Bernatziks Einspruch gestoßen. Kurz nach Veröffentlichung im Druck schrieb er im November 1892 an Jellinek: Ich hätte sehr viel Anlaß gehabt darin mit Bekkers u. Exners jüngsten Schriften zu conversiren; aber ich unterließ es, weil ich mit Exner hätte polemisiren müßen. Bei näherem Studium seiner Rede fand ich sie erstaunlich oberflächlich. Der „Zopf unseres Jarhunderts“- gut aber der eine Ursache?? - er ist doch selbst eine Folgeerscheinung! Und was bringt der Zopf bei ihm alles hervor! ! ! Der Zopf unserers Jarhunderts verursacht das Suchen nach der einzig richtigen Verfaßung, sagt Exner - vide Platon etc. Anfänglich hatte mir die Schrift sehr gut gefallen.65 Exner hatte über den Verlust des humanistisch-historischen Denkens zu Gunsten einer wortreich überzeichneten „Invasion des naturwissenschaftlichen Denkens“, das er als „Zopf des 19. Jahrhunderts“ beschrieb, geklagt. Bedauerlicherweise sei an die Stelle der zerfallenen idealistisch-spekulativen Philosophie aus der Tradition von Kant und Hegel trotz so großer Alternativen wie Burke und Savigny die Dominanz der naturwissenschaftlichen Denkweise getreten. Auch in die Geistes- und Rechtswissenschaften sei ein Denken nach „dem Muster anatomischer und 62 Vgl. Brauneder, Wilhelm: Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft in Österreich. In: derselbe: Studien I. Entwicklung des Öffentlichen Rechts. Frankfurt 1994, S. 237-253 und Schwärzier, Nikolaus: Friedrich Tezner (1856-1925). In: Juristen in Österreich, hrsg. von Brauneder, Wilhelm. Wien 1987, S. 242-247. 63 BaJ 21.12.1896. Jellinek, Georg: Adolf Exner. Ein Wort zu seinem Gedächtnis. In: derselbe: Ausgewählte Schriften und Reden I. Berlin 1911, S. 245-254. 65 BaJ 15.11.1892. 218

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