Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
RAUSCHER, Peter – STAUDINGER, Barbara: Der Staat in der frühen Neuzeit. Überlegungen und Fragen zu aktuellen Neuerscheinungen der deutschen Geschichtswissenschaften
als Sprecher einer „Großgruppe“ gesehen werden können, wäre näher zu diskutieren, wird hier aber generell bezweifelt.19 Dass (protestantische) Kriegspropaganda an die nationale Einheit der Deutschen appellierte, darf angesichts der „Intemationalität“ des Katholizismus kaum verwundern. Der Erfolg, der damit im katholischen Reich erzielt wurde, ist allerdings als sehr gering zu bezeichnen. Ebenfalls höchst problematisch ist das „nationale“ Zusammengehörigkeitsgefühl der politischen Führungsschicht, nämlich der Reichsstände. Auch die deutschen Fürsten gehörten zunächst einmal zu einer „europäischen“ Adelsschicht, deren Mitglieder nie zögerten, ausländische Throne zu besetzen und ihre dynastischen Ansprüche auch über die Reichsgrenzen hinaus zu vertreten. Egal ob hinsichtlich Schwedens, Polens, Englands, Ungarns oder Russlands, der Hochadel des Reichs kümmerte sich kaum um „nationale“ Grenzen. Ähnliches gilt für die Politik der Reichsfürsten. Das Reich war insofern immer nach außen offen, als „fremde Potentaten“ ihre Beziehungsnetze im Reich knüpfen konnten.20 Ebenso offen nach außen war das politische Agieren der Reichsstände selbst: auch im 17. und 18. Jahrhundert kam es zu keinem dauerhaften geschlossenen Vorgehen aller Reichsstände gegen einen äußeren Feind. Alle diese angeführten Beispiele beziehen sich auf einen sehr elitären Kreis. Wie war die nationale Stimmung bei der Masse der Untertanen? Völlig zu Recht stellt Reinhard diesbezüglich grundsätzlich fest: Soweit sich überhaupt etwas über das Bewußtsein einfacher Menschen in der Vor- modeme feststellen läßt, müssen wir davon ausgehen, daß sie sich mit ihrer engeren Umgebung, ihrer ,Face to Face Community* identifizierten, ihrer Grundherrschaft, ihrem Dorf, ihrem Tal, ihrer Stadt, und nicht selten bereits ihre Nachbarn mit xenophober Abneigung belegten (S. 444). Daraus ist zunächst zu folgern, dass weder im Rahmen der „Ständenation“ noch bei den Untertanen die Nation „zum Letztwert und Legitimitätsquell für Forderungen jedweder Art“21 wurde, sondern zumindest bis Mitte des 18. Jahrhunderts von 19 Gleichzeitig berührt dies die Frage nach der Rezeption dieser Schriften, da z. B. die deutschen Humanisten bis auf wenige Ausnahmen in lateinischer Sprache schrieben. 211 Schmidt: Geschichte, S. 349. Vgl. z. B. auch Edelmayer, Friedrich: Das Netzwerk Philipps 11. von Spanien im Heiligen Römischen Reich, ln: Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum, hrsg. von Heinz Duchhardt, Matthias Schnettger. Mainz 1999 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte. Beiheft 48), S. 57- 79. Lanzinner, Maximilian: Das römisch-deutsche Reich um 1600. In: Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, hrsg. von Notker Hammerstein, Gerrit Walther. Göttingen 2000, S. 19-45, hier S. 36-42. 21 Langewiesche, Dieter: „Nation“, „Nationalismus“, Nationalstaat“ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter. Versuch einer Bilanz, ln: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hrsg. von Dieter Langewiesche, Georg Schmidt. München 1999, zitiert nach Schmidt: Geschichte, S. 30. 414 Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48/2000 - Rezensionen