Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
RAUSCHER, Peter – STAUDINGER, Barbara: Der Staat in der frühen Neuzeit. Überlegungen und Fragen zu aktuellen Neuerscheinungen der deutschen Geschichtswissenschaften
Diese suggestive, vielleicht bewusst an nationale Gefühle der Leser appellierende Frage Schmidts, wird vom Autor nicht diskutiert. Ohne näher einen Vergleich zwischen Frankreich und dem Reich anzustellen, um die Ähnlichkeiten und Unterschiede der politischen Systeme zu beleuchten, zieht sich Schmidt auf die Behauptung zurück, dass das Reich als „Staat“ zu bezeichnen sei, weil eben Frankreich auch als ein solcher betrachtet werde. Hartung hat vor einer solchen Vereinfachung gewarnt, leider vermisst man aber dieses Standardwerk der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung in Schmidts Literaturverzeichnis. Die Ursache für die Diskussion um die Notwendigkeit und wissenschaftliche Sinnhaftigkeit der Klassifizierung des Alten Reichs als „Staat“ liegt in dem Versuch Schmidts, eine nationalstaatliche Geschichte Deutschlands in die frühen Neuzeit zu projizieren. Obwohl auch er die Problematik der Staatlichkeit des Reichs, „das zwar Staat ist, dessen Staatsbildung aber nie abgeschlossen werden konnte“ (S. 42), sieht, kann er nicht auf den Staatsbegriff für das (im Wesentlichen auf die deutschsprachigen Gebiete eingeschränkte) Reich verzichten. Schließlich geht das gesamte Buch „von einer inneren Einheit der frühneuzeitlichen Geschichte von Staat und Nation in Deutschland aus“ (S. 355).15 Es fehlt also noch die Nation und deren Attribute, die weiter unten zu besprechen sein werden. Der komparative europäische Blickwinkel, wie ihn Reinhard und Schilling einnehmen, scheint die Staatlichkeit des Reichs doch stark zu relativieren. So fallt die Schwerpunktsetzung Schillings in der Charakterisierung des Alten Reichs sehr unterschiedlich zu Schmidt aus: das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war stets mehr als ,alles das sich Teut- scher Sprachen gebraucht1 [...], [es] umfaßte stets auch Gebiete slawischer und romanischer Sprache [...]. Dieses Reich war ein vielsprachiges, übernationales Gebilde, das sich schließlich zu einer Art ,Staatenverbund1 fortentwickelte, allerdings nicht auf modernen völkerrechtlichen, sondern auf alteuropäisch lehnsrechtlichen Grundlagen. Schilling sieht daher das politische System Mitteleuropas nicht als einen Staat im modernen Sinn, sondern in einer „Verschränkung von vormodem-vorstaatlichem Reich und einzelnen Territorien“ (S. 129). Die Übemationalität des Reichs kommt für ihn besonders am Reichstag zum Ausdruck: Angesichts der Reichsstandschaft von Dänemark und Schweden sowie der Personalunion zwischen Kurhannover und England wurden in Regensburg stets auch europäische Dinge verhandelt. Ungeachtet aller Unzulänglichkeiten kann der deutsche Reichstag durchaus als historisches Vorbild für moderne überstaatliche Institutionen der Konfliktschlichtung und des friedlichen Interessenausgleichs dienen (S. 142). Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48/2000 - Rezensionen 15 Gegensätzlich argumentiert Schulze, dass die deutsche politische Nation mit der Reformation nicht nur konfessionell zerbrach, sondern sich die Staatsbildung in Folge ausschließlich auf die Territorien verlagerte, sich eine politische deutsche Nation also nicht herausbildete. Schulze, Hagen: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. München 1994 (Europa bauen), S. 144 f. 411