Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48. (2000)
LILLA, Joachim: Die Vertretung Österreichs im Großdeutschen Reichstag
Die Vertretungen im Grossdeutschen Reichstag namen und 65 fehlende oder unvollständige Geburtsdaten) rechtfertigen immerhin den Schluss, dass es für Bürckel und seine Mitarbeiter (wobei in den vormaligen Bundesländern auch die Gauwahlleiter mit der Sache befasst gewesen sein dürften) nicht einfach gewesen ist, in der Kürze der verfügbaren Zeit geeignete Kandidaten in der benötigten Zahl zu benennen und einen Wahlvorschlag aufzustellen. Hierbei ging man offenbar ziemlich oberflächlich vor, denn anders wäre es nicht zu erklären, dass zum Teil erheblich kriminell vorbestrafte Personen (wie etwa Kalcher oder auch Hönisch, wie weiter unten dargestellt) auf dem Wahl Vorschlag erschienen52. Der österreichische Wahl Vorschlag wurde dann, wie schon oben dargestellt, anhand bestimmter Kriterien auf die alphabetisch aufgebauten Listen „I“ und „III“ verteilt. III. Wahlergebnis und Zuteilung der Mandate Die Vorgeschichte, insbesondere die propagandistische Wahlvorbereitung, der Volksabstimmung und der Reichstagswahlen - in dieser Reihenfolge - am 10. April 1938 ist in der Literatur eingehend behandelt worden. Diese ist im Zusammenhang weiter nicht von Belang. Ein Schlaglicht auf den so genannten Wahlakt an sich werfen die folgenden Beobachtungen des amerikanischen Europaberichterstatters der CBS New York, William L. Shirer am Tag der Wahl in Wien: Die heutige .Volksabstimmung1 verlief in einer gespenstischen Feiertagsatmosphäre. Nach Goebbels' Aussage haben neunundneunzig Prozent der Österreicher mit Ja gestimmt. Das mag stimmen. Es brauchte schon einen mutigen Bürger, um mit Nein zu stimmen, da ja jeder mit dem Gefühl an die Urne ging, daß die Nazis genau beobachteten, wie er wählte. Ich war heute nachmittag in einem Stimmlokal in der Hofburg. Der Raum gehörte einst zur kaiserlichen Wache. Ich betrat eine der Wahlkabinen. Direkt in Augenhöhe war dort ein Muster-Stimmzettel angebracht, der zeigte, wie man sein Ja anzukreuzen hatte. In der Ecke der Kabine war ein großes Loch, durch das der nur wenige Schritte entfernt sitzende Wahl Vorstand genau beobachten konnte, wie man wählte! Abends um halb acht machte ich eine Fünfzehn-Minuten-Sendung. Obwohl die Wahllokale eben erst geschlossen hatten, berichtete ich, daß neunundneunzig Prozent der Österreicher mit Ja stimmen würden. Ein Nazi-Offizieller gab mir die Zahl unmittelbar vor Sendebeginn, und ich setzte voraus, daß er es wissen müßte. Vielleicht hat er es auch schon gestern gewußt. Und so hat heute Österreich seine jahrhundertealte Unabhängigkeit abgewählt und schließt sich dem Reich an. Finis Austriae!53 Es kann davon ausgegangen werden, dass Wahlmanipulationen, zumindest in größerem Umfang, nicht erfolgten, weil sie angesichts der überwältigenden Zu52 Eine sorgfältigere „Überprüfung“ zumindest der in den Reichstag eingezogenen Kandidaten ist erst im Sommer 1938 erfolgt. 53 Shirer, William L.: Berliner Tagebuch. Aufzeichnungen 1934-41, Leipzig-Weimar 1991, S. 110. 241