Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 47. (1999)
ENDERLE-BURCEL, Gertrude – MÄHNER, Peter – MENTZEL, Walter: Die Ministerratsprotokolle der Regierung Figl I. Ein Editionsprojekt der Österreichischen Gesellschaft für historische Quellenstudien
Die Ministerratsprotokolle der Regierung Figl I Nicht selten versuchte die Regierung, das Parlament als Druckmittel gegen die Alliierten einzusetzen. Es diente als Rechtfertigungsgrund bei Verzögerungen in der Regierungsarbeit, mit Hinweisen auf zu erwartende Einsprüche des Parlaments konnten manchmal österreichische Standpunkte gegenüber den Alliierten durchgesetzt werden. Spielte die Institution Parlament in der Frühphase der Zweiten Republik in vielen Bereichen nur eine Nebenrolle, wurde die Bedeutung der parteinahen Interessenorganisationen im politischen Entscheidungsprozeß immer mehr aufgewertet. Anhand der Ministerratsprotokolle der Regierung Figl lassen sich die Rekonstruktion, die verstärkte Einbindung der Interessengruppen und -Organisationen und die Ausbildung sozialpartnerschaftlicher Strukturen, aber auch die konsequente Durchsetzung der Parteiinteressen deutlich nachvollziehen. Ein Beispiel für den immer stärker werdenden Einfluß und die Einbindung der Sozialpartner bieten die bis Ende 1946 beschlossenen drei Rückstellungsgesetze und die Errichtung des Wirtschaftlichen Ministerkomitees.11 Beispiele für die parteipolitische Durchdringung geben die während der Anfangsphase der Regierung Figl unternommenen Versuche der Durchsetzung eines einheitlichen energiewirtschaftlichen Konzeptes (Lastverteilergesetz), die Errichtung des Warenverkehrsbüros oder der Komplex „öffentliche Verwalter“. Inhaltliche Schwerpunkte Die ersten beiden Bände der Edition werden für den Zeitraum Dezember 1945 bis Oktober 1946 detaillierten Einblick in die Schwierigkeiten der Aufbauphase der Zweiten Republik geben. Eine der wichtigsten Fragen blieb auch für die Regierung Figl die Emährungs- und Versorgungslage der Bevölkerung. Dabei war Österreich nach wie vor von den zahlreichen Hilfslieferungen anderer Staaten abhängig und die Frage war somit eng mit der Außenhandelspolitik verbunden. Der Regierung gelang es, einen Vertrag mit der UNRRA abzuschließen, und es wurde in Wien ein UNRRA-Büro eingerichtet. Anfang März traf die erste UNRRA-Hilfslieferung, 8 000 t Weizen, in Österreich ein.12 * Anfang April nahmen die Minister für Volksemährung und für Land- und Forstwirtschaft an einer internationalen Emährungskonferenz in London teil. Nicht ohne Stolz bemerkte der Bundeskanzler: „Es ist das erste Mal, daß Österreich zu einer offiziellen internationalen Konferenz als gleichberechtigter Partner eingeladen wird.“11 Die Emährungslage in Österreich verschärfte sich durch den Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft, vor allem in Ostösterreich, wo die slowakischen und tsche13 Zum Wirtschaftlichen Ministerkomitee siehe unten S. 276. Protokoll Nr. 10 vom 26. Februar 1946. Protokoll Nr. 14 vom 29. März 1946. 275